NSU Skandal

Kenan Kolat: „Ich habe Angst vor dem Verfassungsschutz“

Welche Rolle spielt der Verfassungsschutz an den NSU-Morden? Wer sollte seinen Hut nehmen? Was ist zu tun? MiGAZIN sprach mit Kenan Kolat über die aktuelle Stimmungslage der Türkeistämmigen.

MiGAZIN: Sie sind Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und können die Gefühlslage der Türkeistämmigen im Zusammenhang mit dem NSU-Skandal gut einschätzen. Wie sind die Reaktionen?

Kenan Kolat: Die Menschen sind empört darüber, dass wichtiges Beweismaterial von einem Mitarbeiter des Sicherheitsapparates vernichtet werden konnte – und das in einem 10-fachen Mordfall.

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Diese Tat schürt die Vermutung, dass der Bundesverfassungsschutz am Mord von zehn Migranten verwickelt war. Das Schreddern wichtiger Akten ist der Beweis dafür, dass der Verfassungsschutz etwas zu verbergen hat, so die verbreitete Ansicht der Türken in Deutschland. Der Sicherheitsapparat hat nicht nur durch Nachlässigkeit versagt, sondern durch die Beschuldigung, die Opfer hätten selbst kriminellen Banden angehört – eine rassistische und diskriminierende Haltung gezeigt.

„Der Sicherheitsapparat hat nicht nur durch Nachlässigkeit versagt, sondern durch die Beschuldigung, die Opfer hätten selbst kriminellen Banden angehört – eine rassistische und diskriminierende Haltung gezeigt.“

Diese Anschuldigungen erschütterten den Glauben der hier lebenden Türken an den deutschen Rechtstaat. Wie sich aus einer Umfrage der türkischen Universität Hacettepe in Ankara gezeigt hat, glauben zweidrittel der in Deutschland lebenden Türken, dass die Sicherheitsorgane in die Morde involviert gewesen sind, und zwar durch billigendes in Kaufnehmen der Taten oder das Decken von fremdenfeindlichen Gruppierungen. Laut dieser Studien erwarten sogar 75% der Befragten weitere rechtsextremistische Anschläge auf Türken oder anderen Migranten.

Das Vertrauen der türkischen Migranten in die deutschen Sicherheitsorgane ist auf den Nullpunkt gesunken. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch kein Vertrauen mehr in den Verfassungsschutz, ja ich habe sogar Angst vor ihm und seinen Mitarbeitern. Dieser Fall ist eine Farce für die Demokratie.

MiG: Ist der Rücktritt des Verfassungsschutzpräsidenten Heinz Fromm vor wenigen Tagen der richtige Ansatz um die Missstände beim Verfassungsschutz zu beseitigen?

„Das Vertrauen der türkischen Migranten in die deutschen Sicherheitsorgane ist auf den Nullpunkt gesunken. Und wenn ich ehrlich bin, ich auch kein Vertrauen mehr in den Verfassungsschutz, ja ich habe sogar Angst vor ihm und seinen Mitarbeitern.“

Kolat: Dies war ein notwendiger Schritt. Denn der Verfassungsschutzpräsident hatte kein ertrauen mehr in seine eignen Leute, die allem Anschein nach tun was sie wollen und am Ende weiß niemand, was der andere eigentlich gemacht hat. Der Rücktritt Fromms kann aber nur der Anfang sein. Die politische Führung aus jener Zeitspanne, in der die Morde passierten, muss ebenfalls in die Verantwortung gezogen werden. Nicht nur Otto Schily und Günter Beckstein, die sich bereits zu Wort gemeldet haben, sondern auch Wolfgang Schäuble, der damalige Bundesinnenminister, der entgegen allen Warnungen, die Abteilungen des Links- und Rechtsextremismus im Verfassungsschutz zusammenlegte und somit den Kampf gegen die rechte Szene schwächte. Auch der damalige Innenminister Fritz Behrens und Volker Bouffier müssen sich kritischen Fragen stellen. Schließlich ist keiner von ihnen den Hinweisen auf rechtsextremistische Täter nachgegangen. Außerdem sollte auch Jörg Ziercke, der Chef des Bundeskriminalamtes, die Verantwortung seines Hauses an den ungeklärten Morden übernehmen und nicht nur allgemein von Fehlern der Behörden sprechen. Dies wäre ein wichtiger Schritt für den deutschen Rechtsstaat, es würde Gerechtigkeit signalisieren, um das Vertrauen der Migranten zurückzugewinnen.

MiG: Wie konnte es dazu kommen, dass drei mordende Neonazis durchs Land ziehen und über Jahre hinweg den Sicherheitsbehörden nicht aufgefallen sind? Wie erklären Sie sich das?

„Es muss eine offene Debatte über institutionellen Rassismus geführt werden. Um das Problem zu erkennen, muss das Kind beim Namen genannt werden.“

Kolat: Zum einen gibt es strukturelle Probleme bei den Sicherheitsbehörden, die allem Anschein nach eine kooperative Zusammenarbeit der Ämter verhindert haben. Andererseits aber liegt hier ein klarer Fall von institutionellem und strukturellem Rassismus vor, der tief in den Köpfen der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes – ich sage nicht aller – wurzelt ist. Wenn Opfer als Täter und Kriminelle gesehen werden, zeigt das die Geisteshaltung der Angestellten. Dieses negative Bild von Einwanderern ist auch auf die diskriminierenden und negativ geführten politischen Debatten zurückzuführen. Auch hier muss sich auf politischer Ebene dringend etwas ändern, um weitere Diskriminierung von Migranten und insbesondere Muslimen entgegen zu wirken.

MiG: Die Einführung einer Neonazi Datei, wie es sie schon seit Längerem für Terroristen aus anderen Strömungen gibt, wurde eingeführt. Was sollte noch getan werden, um solchen rechtsradikalen Übergriffen auf Migranten zu verhindern?

Kolat: Es muss eine offene Debatte über institutionellen Rassismus geführt werden. Um das Problem zu erkennen, muss das Kind beim Namen genannt werden.

Ein Vorbild sollte uns hier Großbritannien sein, wo jeder Übergriff auf Migranten zunächst als rassistischen Anschlag gesehen wird und in diese Richtung ermittelt wird. Außerdem wünschen wir uns die Einrichtung einer unabhängigen Beobachtungsstelle zur Überwachung von Rassismus in Deutschland. Und ein ganz wichtiger Punkt ist die Ausländerpolitik hierzulande: Politiker sollten dazu übergehen, die Einwanderer nicht mehr an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Es sollte eine antirassistische Gleichstellungs- und Partizipationspolitik geführt werden, um das Vertrauen der Türken und anderen Migranten in den Deutschen Staat wiederherzustellen.

MiG: Sehr geehrter Herr Kolat, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.