NSU

Die integrationspolitische Reifeprüfung für Deutschland

Lückenlos und transparent sieht anders aus. Die bisherigen Aufklärungsversuche der NSU-Morde überzeigen nicht. Damit verspielen Politiker und Sicherheitsbehörden nicht nur ihre eigene Glaubwürdigkeit, sondern das Vertrauen von Millionen Bürgern.

Seit dem Bekanntwerden der rechtsextremistischen NSU-Terrororganisation ist mehr als ein halbes Jahr vergangen. Von einer lückenlosen Aufklärung und Aufarbeitung ist man aber noch gefühlte weitere zehn Morde entfernt. Verantwortliche gibt es ebenso wenig wie Antworten auf dringende Fragen. Im Gegenteil: In den sächsischen Untersuchungsausschusss wurde ein NPD-Abgeordneter des Landtages gewählt – mit 22 Stimmen, obwohl die NPD „nur“ 8 Sitze hat! In Thüringen wurden „Strukturelle Fehler“ und „handwerkliche Defizite“ gefunden. Man spricht im Abschlussbericht von „Pannen“. Konsequenzen bisher: Fehlanzeige. Ebenso wirft auch der Untersuchungsausschuss im Bundestag mehr Fragen auf, als sie beantwortet und entlastet bisher einen möglichen Verantwortlichen nach dem anderen – zuletzt Bayerns Ex-Innenminister Günther Beckstein (CSU).

Als vor sechs Monaten ein großer Aufschrei durch die gesamte Republik ging, hatte man darauf gehofft, dass jetzt ein Ruck durch Deutschland geht. Heute macht sich Ernüchterung breit, Neuigkeiten über die NSU-Morde sind nicht mehr auf den Titelseiten zu finden. Aufmerksame Leser werden dennoch fast täglich mit neuen NSU-Pleiten, Pech und Pannen der Sicherheitsdienste konfrontiert, die von eifrigen Journalisten bekannt gemacht werden und nicht von den Sicherheitsbehörden, die ursprünglich größtmögliche Transparenz versprochen hatten. Vielmehr glänzen Verfassungsschutz und Innenministerien bisher mit Blockade, Schweigen, Hinhalten und damit, so wenig wie möglich preiszugeben. „Wir bekommen von der Landesregierung weder Aktenübersichten noch Organigramme mit den damals zuständigen Mitarbeitern der Ministerien“, gab etwa Martina Renner (Die Linke), Mitglied im Thüringer Untersuchungsausschuss, zu Protokoll.

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Beispiele gibt es zuhauf: Wieso erfährt die Öffentlichkeit etwa von der Presse und nicht vom Innenministerium selbst, dass Beate Zschäpe kurz nach der Explosion in Zwickau von einem Handy angerufen wurde – mehrmals, das im sächsischen Innenministerium gemeldet ist. Und wieso ist am anderen Ende ein Schweigen zu vernehmen, wenn dort angerufen wird, wie es der Berliner Kurier getan hat?

Oder: Wieso erfährt man über der Freitag, dass beim NSU-Mord an Halit Yozgat im April 2006 in Kassel nicht nur ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes in dem Internetcafé anwesend war, sondern dass ein mit ihm in Verbindung stehender V-Mann möglicherweise auch in zwei weiteren Morden Kenntnis zu den Hintergründen der Mordserie hatte. Die Krönung an diesem Beispiel ist, dass der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) das Verlangen der Kasseler Ermittler, den V-Mann zu vernehmen, zurückgewiesen und keine Aussagegenehmigung erteilt hat.

Alles in allem erhärtet sich der Verdacht, als wenn Sicherheitsbehörden und verantwortliche Politiker nur noch darauf aus sind, Schadensbegrenzung zu betreiben. Aufklärung, so der sich zunehmend verhärtende Verdacht, ist nur insoweit gewollt, als dass keine Konsequenzen gezogen werden müssen. Erinnerungslücken sobald es an die eigene Wäsche gehen könnte, ist keine Seltenheit. Spitze Zungen behaupten sogar, dass die im Februar vom Innenministerium über die Bild verbreitete sog. „Schock-Studie“ über junge Muslime, die dem Innenministerium bereits seit seit sechs Monaten veröffentlichungsreif vorlag, nur ein Versuch war, von der NSU abzulenken, ebenso die abstruse NPD-Verbotsdebatte, ohne die V-Männer abzuziehen zu wollen. Ähnliches wird auch über die längst bekannten aber plötzlich ins Rampenlicht gerückten Salafisten gesagt. Verschwörungstheorien? Gut möglich. Spielt das aber eine Rolle? „İnsanın içine kurt düşmeye görsün“, lautet eine türkische Volksweisheit, was so viel bedeutet wie: Wehe, wenn der Mensch anfängt zu zweifeln.

Wie groß und verankert die Zweifel bereits sind, zeigt eine Studie. Danach wurde das Vertrauen der Türkeistämmigen in Sicherheitsdienste und Politik mit dem Bekanntwerden der NSU-Morde massiv erschüttert. Über 75 Prozent glauben, dass der Staat die rechtsextreme NSU unterstützt hat, rund 70 Prozent glauben, dass verantwortliche Politiker die Morde vertuschen wollen und kein Interesse an einer Aufklärung haben und 80 Prozent glauben sogar, dass der Rechtsterrorismus und die Morde weitergehen. Ein fatales Bild, wenn man bedenkt, dass diese Befunde aus Dezember 2011 stammen. Würde diese Umfrage heute durchgeführt werden, sähen die Befunden wahrscheinlich noch schlechter aus. Und das sollte zu denken geben – im Integrationsland Deutschland!

Denn bei der Aufklärung der NSU-Morde geht es nicht lediglich um eine Aufklärung eines Serienmordes oder eines besonders kniffligen Kriminalfalls. Hier geht es um viel mehr: Es ist die integrations- und sicherheitspolitische Reifeprüfung Deutschlands. Davon wird abhängen, wie sich Millionen Türkeistämmige in diesem Land fühlen werden; ob sie ob beim nächsten Besuch des türkischen Premiers in einer ausverkauften Halle frenetisch feiern; ob sie nur Integrationskurse besuchen und die Sprache lernen oder auch auch eine darüber hinausgehende Bindung zu Deutschland aufbauen. Letzteres ist wünschenswert, aber nicht ohne lückenlose Aufklärung zu haben – samt Aufdeckung aller Hintermänner mit personellen wie strukturellen Konsequenzen auf allen Ebenen! Alles andere – Einbürgerung, Islam-Deutschland-Debatte, Bildung etc. – ist Kindergarten. Und dort legt man bekanntlich keine Reifeprüfung ab.