Der Koran

Ein Nahöstlich-Europäischer Text

Mit seinen jüngsten Äußerungen, der Islam gehöre nicht nach Deutschland, hat Bundespräsident Joachim Gauck gezeigt, wie wenig er über die christlich-islamische oder europäisch-morgenländische Geschichte weiß.

Ein Blick in die Standardliteratur wie Hugh Goddard’s A History of Christian-Muslim Relations beweist anhand historischer Fakten, dass der Islam für die christlich-europäische Gemeinde keineswegs ein Fremdkörper war. Ein kleiner Blick auf die berühmte Ausstellung „1001 Erfindungen“ reicht aus, um sich davon zu vergewissern, dass Mathematik, Geographie, Medizin, Astronomie, Theologie und viele andere Wissenschaften vom 7. bis 17. Jahrhundert von Muslimen bereichert wurden.

Muslimische Wissenschaftler nahmen ihre Inspiration hauptsächlich vom Koran, der sie dazu motivierte, kontinuierlich nach Wissen zu streben und die Zeichen Gottes im Kosmos zu entdecken. Wie der berühmte Religionshistoriker Wilfred Cantwell Smith feststellte, ignoriert die Geschichtsschreibung bis heute die Tatsache, dass Millionen Christen im ehemaligen Byzantinischen Reich und in Nordafrika aus intellektuellen Gründen zum Islam konvertierten.

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Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, mit welcher Vehemenz einige Persönlichkeiten sich dagegen wehren, Muslime könnten irgendeinen konstruktiven Beitrag zur menschlichen Zivilisation geleistet haben oder dass es eine attraktive Seite am Islam geben könnte, die Millionen in ihren Bann zog. Dass der zivilisatorische Einfluss der Muslime zum Teil auch durch vergangene aggressive Kolonial- und Imperialpolitik des Westens unterbrochen wurde, wird gerne übersehen. Eine etwas faire Geschichtsdarstellung scheint daher angebracht.

In ihrem Vortrag „Der Koran – ein nahöstlich-europäischer Text“ an der Princeton-Universität stellt die Koranwissenschaftlerin Prof. Dr. Angelika Neuwirth von der Freien Universität Berlin gängige Annahmen auf die Probe.

Sie stellt die These auf, dass der Koran zum gemeinsamen kulturellen Erbe Europas gehört und dass es genau diese Tatsache ist, die sie motiviert, sich mit dem Koran auf intellektueller Ebene ernsthaft und aufrichtig auseinanderzusetzen. Deutschland, das durch viele als das jüdisch-christliche Abendland beschrieben wird, beruft sich in seinen Gründungsdokumenten auf das reiche Erbe der Spätantike: Biblische und post-biblische Themen wie die patristische Literatur finden ihren Anklang in der deutschen Geschichte.

Interessanterweise ist der Koran genau wie die jüdischen und christlichen Schriften in der Epoche des siebten Jahrhunderts und in derselben Region, dem Nahen Osten, verwurzelt. Trotzdem wird er bis heute hartnäckig vom Verständnis des kulturellen Erbe Europas ausgeschlossen. „Das Christentum und Judentum gehören zu Europa, der Islam aber nicht“, heißt es. Das aber widerspricht den historischen Tatsachen.

Der Koran wurde in kein historisches Vakuum geboren. Vielmehr herrschte eine gewisse Kontinuität. So findet die Erwähnung von biblischen Propheten ihren Anklang im Koran ohne nennenswerte Begründung oder Ausführung. Warum? Weil der Koran voraussetzt, dass seine Zuhörerschaft eine Beziehung zur Thora und den Evangelien besitzt. Schließlich versteht sich der Koran nicht als neue, sondern als die letzte, universale und andauernde Mitteilung aus einer Reihe göttlicher Offenbarungen – oder wie es Mustafa Ceric, der islamische Gelehrte aus Bosnien formuliert hat: Das Alte, das Neue und das Letzte Testament stehen in engem Zusammenhang zueinander. Der Koran war also eine wichtige Stimme im Konzert der Religionen des 7. Jahrhunderts.

Gegenwärtig ist aber wenig zu lesen oder zu hören von den reichen und theologischen Diskursen der Spätantike, an denen Juden, Christen und Muslime gemeinsam teilnahmen. Teilweise polemisch, manchmal sogar konfliktreich, doch offen und ehrlich und mit der Einsicht, dass man sich miteinander auseinandersetzen muss und ohne Scheu, voneinander herausgefordert zu werden und zu lernen. Man denke an Theologen wie Johannes von Damaskus, Theodore Abu Qurra, Hunayn ibn Ishaq, Thomas Aquinas, Nikolaus Cusanus, um nur einige in Erinnerung zu rufen, die den Koran studierten und ihre eigenen theologischen und philosophischen Traktate damit bereicherten.

Warum sollte der Koran also weniger von Bedeutung sein als das Alte und das Neue Testament oder „säkulare“ Texte? Wieso sollte der Koran im öffentlichen Diskurs über Moral, Ethik, Umwelt, Politik, Wirtschaft etc. nicht auch einmal von Nahem beäugt und ernst genommen werden? Es ist Zeit für ein Umdenken auf allen Ebenen.

Im Falle der „Bunten Republik Deutschlands“, sollte das reiche geistige Erbe des Nahen Ostens thematisiert und der Koran als „nahöstlich-europäisches Element“ wiederbelebt werden. Berührungspunkte, und davon gibt es viele, aber auch konfliktreiche Themen der Vergangenheit sollten kritisch unter die Lupe genommen werden.

Besonders Lehrer mit multikulturellen Klassen müssen hier einen Schwerpunkt setzen. Es ist in unserer pluralistischen Gesellschaft nicht länger tragbar, dass diese gemeinsame Geschichte im Unterricht ausgeblendet wird. Dabei liefert gerade die gemeinsame Geschichte, Potenzial für ein gemeinsames Ethos, für ein neues WIR.