Dossier

Die Abwanderung hochqualifizierter türkeistämmiger deutscher Staatsangehöriger in die Türkei

Ein herber Verlust für den Standord Deutschland. Immer mehr hochqualifizierte Türkeistämmige wandern in ihre alte/neue Heimat aus. Vera Hanewinkel geht der Frage nach, welche Motive dahinterstecken.

Der Herbst 2011 stand im Zeichen des 50-jährigen Jubiläums des Abkommens zur Anwerbung türkischer Arbeitskräfte (›Gastarbeiter‹) durch die Bundesrepublik Deutschland. In den Blick genommen wurden in diesem Rahmen Migrationsbewegungen von der Türkei nach Deutschland, die mit der Unterzeichnung des Anwerbeabkommens am 30. Oktober 1961 einsetzten und auch nach dem Anwerbestopp 1973 anhielten.

Migrationen, die in umgekehrter Richtung verlaufen, finden demgegenüber deutlich seltener Beachtung. Tatsächlich wandern aktuell mehr Personen von Deutschland in die Türkei als umgekehrt: Im Jahr 2010 verzeichnete die Bundesrepublik gegenüber der Türkei einen negativen Wanderungssaldo von 5.862 Personen. Insgesamt standen den 30.171 Zuzügen aus der Türkei 36.033 Fortzüge in die Türkei gegenüber. Diese Tendenz zeigt sich seit 2006, als erstmals seit 1985 ein negativer deutscher Wanderungssaldo (1.780 Personen) gegenüber der Türkei verzeichnet wurde. Seither hat sich der Wanderungsverlust vergrößert. Dabei handelt es sich nicht nur um türkische Staatsbürger, die Deutschland den Rücken kehren. Auch der Anteil deutscher Staatsbürger an der Abwanderung in die Türkei ist in den letzten Jahren gestiegen. Aus der Wanderungsstatistik geht allerdings nicht hervor, inwieweit es sich um autochthone Deutsche oder um Eingebürgerte handelt.

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Aufmerksamkeit erhalten Wanderungen von Deutschland in die Türkei jüngst verstärkt in Bezug auf das Phänomen der Migration hochqualifizierter Personen der zweiten türkischen Migrantengeneration in die Türkei. Diesem Thema gilt das Kurzdossier, das vor allem nach den Motiven für die Abwanderung hochqualifizierter Türkeistämmiger fragt. Nach einer Einführung in die Thematik folgt ein Blick auf ökonomische und emotionale Abwanderungsmotive. Im Anschluss geht es um die grundlegenden Voraussetzungen für die Zuwanderung und die Integration der Zuwanderer in der Türkei. Schließlich werden Aspekte von Identifikation und (ethnischen) Selbstzuschreibungen der Türkeistämmigen diskutiert sowie die Frage betrachtet, ob es sich bei diesem Phänomen um eine Abwanderung oder eine Rückkehrmigration handelt.

Hintergründe
Das Thema der Abwanderung hochqualifizierter Türkeistämmiger aus Deutschland war bislang vor allem Gegenstand von Mediendiskussionen, wobei vor dem Hintergrund von demographischem Wandel und drohendem oder bereits existierendem Fachkräftemangel in einigen Beschäftigungsbereichen besonders die negativen Auswirkungen dieser Abwanderung für die deutsche (Volks-)Wirtschaft unter dem Schlagwort Brain Drain thematisiert wurden. Die Rede vom »Exodus von Mustermigranten« 1 spiegelt eine zentrale Frage wider, die sich angesichts der Abwanderung hochqualifizierter Türkeistämmiger zu stellen scheint: Warum verlassen gerade diejenigen Deutschland, denen die Integration in die deutsche (Mehrheits-)Gesellschaft gelungen ist?

Gleichzeitig legt der Begriff »Exodus« nahe, dass es sich bei diesen Migrationen um ein Massenphänomen handelt. 2 Der Umfang der Abwanderung hochqualifizierter Türkeistämmiger aus Deutschland ist bislang jedoch nicht eindeutig erfasst. Zum einen besteht Unklarheit darüber, wie viele türkeistämmige Universitätsabsolventen in Deutschland leben. 3 Zum anderen wird ein Fortzug aus dem Gebiet der Bundesrepublik durch eine Abmeldung beim Einwohnermeldeamt registriert, ohne dass der Qualifizierungsgrad vermerkt wird. Darüber hinaus kommt es vor, dass der Umzug ins Ausland nicht ordnungsgemäß gemeldet wird, wodurch diese Fälle in der Wanderungsstatistik erst gar nicht auftauchen. Während die tatsächliche Zahl hochqualifizierter Abwanderer türkischer Herkunft also im Dunkeln liegt, gibt es Indizien für eine hohe generelle Abwanderungsbereitschaft unter türkeistämmigen Akademikern. Die 2008/2009 veröffentlichte Studie über Türkische Akademiker und Studierende in Deutschland (kurz: TASD-Studie) des Krefelder Futureorg-Institutes unter Leitung von Sezer/Dağlar kommt zu dem Schluss, dass bei 36 Prozent der in einer quantitativen Onlineuntersuchung befragten rund 250 türkeistämmigen AkademikerInnen und Studierenden die Bereitschaft bestehe, kurz-, mittel- oder langfristig in die Türkei – zumeist das Heimatland ihrer Eltern, da sie selbst in Deutschland geboren oder hier aufgewachsen sind – abzuwandern.

Es war die Veröffentlichung dieses Befundes, die der Diskussion um die Migration hochqualifizierter Türkeistämmiger entscheidenden Auftrieb gab. 4 Zu ähnlichen Ergebnissen hinsichtlich der Abwanderungsbereitschaft kamen jüngst auch das Liljeberg-Institut und das Unabhängige Meinungsforschungsinstitut INFO GmbH in einer ›Repräsentativen Studie zum Integrationsverhalten von Türken in Deutschland‹. Im Rahmen einer telefonischen Befragung Anfang 2011 wurden insgesamt 1.003 Personen (davon 674 ohne und 329 mit deutscher Staatsangehörigkeit) interviewt. Auf die Frage »Planen oder beabsichtigen Sie in die Türkei zurückzukehren?« antworteten 4 Prozent »ja, in den nächsten 2 Jahren«, 12 Prozent »ja, in den nächsten 10 Jahren« und 30 Prozent »ja, aber erst später«. Insgesamt liegt die Abwanderungsbereitschaft der untersuchten Gruppe bei 46 Prozent. Dabei besteht allerdings ein deutlicher Unterschied zwischen Befragten ohne deutsche Staatsangehörigkeit und solchen mit deutschem Pass. So gaben 48 Prozent der Teilnehmer der Untersuchung ohne deutsche Staatsangehörigkeit an, einen Fortzug bzw. eine Rückkehr – um das Vokabular der Fragestellung aufzugreifen – in die Türkei zu planen. In der Gruppe der Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft waren es dagegen nur 39 Prozent. 5

Allerdings geben die Ergebnisse der Studie keine Auskunft über die spezifische Abwanderungsbereitschaft der Gruppe der Akademiker türkischer Herkunft. Auch muss angemerkt werden, dass eine grundlegende Abwanderungsbereitschaft keineswegs zwangsläufig in einen tatsächlichen Fortzug aus Deutschland mündet. Befragungsstudien dieser Art haben in der Vergangenheit immer wieder eine hohe Abwanderungsbereitschaft festgestellt, der Umfang der tatsächlichen Migration blieb demgegenüber sehr deutlich zurück. Beispielhaft dafür, dass Rückkehrpläne oft nicht in die Tat umgesetzt bzw. bis ins hohe Alter hinausgeschoben werden, steht die erste türkische Migrantengeneration. Viele ›Gastarbeiter‹ beabsichtigten, nur vorübergehend in Deutschland zu bleiben und nach einigen Jahren wieder in ihr Heimatland zurückzukehren. Aus dem temporär angelegten Aufenthalt wurde jedoch eine dauerhafte Verlegung des Lebensmittelpunktes nach Deutschland.

Motive
Nach Motiven für eine geplante Rückkehr in die Türkei wird in der Studie des Liljeberg- und des INFO-Institutes nicht explizit gefragt. Die Befragten werden lediglich um eine Stellungnahme zu folgender Aussage gebeten: »In der Türkei hätte ich gute Chancen auf einen gut bezahlten Job«. Die nach Bildungsstand/Ausbildungsniveau der Interviewten aufgeschlüsselten Ergebnisse zeigen, dass dieser Aussage vor allem Personen zustimmen, die mindestens über das Abitur bzw. einen Hochschulabschluss verfügen. 52 Prozent dieser Personengruppe bejahten diese Aussage und sehen für sich damit gute berufliche Möglichkeiten in der Türkei. 6

Das Ergebnis, wonach Türkeistämmige mit einem höheren Bildungsabschluss eine ausgeprägtere Mobilitätsbereitschaft zeigen als niedrig(er)qualifizierte Personen, korreliert mit Daten aus Untersuchungen zum allgemeinen Zusammenhang von Bildung und Mobilitätsverhalten. Demnach sind Personen mit akademischem Abschluss mobiler als die Vergleichsgruppe ohne Hochschuldiplom. 7 In Bezug auf abwandernde deutsche Staatsangehörige zeigen Sauer/Ette beispielsweise auf, dass es sich bei diesen um eine positiv selektierte Gruppe handelt: 49 Prozent haben einen Hochschulabschluss gegenüber 29 Prozent in der nicht-mobilen deutschen Bevölkerung. 8 Das Wanderungsverhalten Türkeistämmiger entspricht also tendenziell dem von Personen ohne Migrationshintergrund und hebt sich somit zunächst nicht besonders hervor, zumal grenzüberschreitende Mobilität bereits in ihrer Familiengeschichte und damit auch in ihrer Biographie angelegt ist. Es stellt sich also die Frage nach den Motiven für das Verlassen Deutschlands und die Wahl der Türkei als Migrationsziel. Während die Liljeberg/INFO-Studie nur indirekt die Gründe für die Abwanderung erfragt und dabei vor allem den Aspekt einer gut bezahlten Arbeitsstelle in der Türkei anspricht, betont die TASD-Studie insbesondere Faktoren im Herkunftsland Deutschland, die eine Abwanderung fördern.

Als Abwanderungsmotive nennt die TASD-Studie vor allem ein »fehlendes Heimatgefühl in Deutschland«, »berufliche Gründe« und »wirtschaftliche Gründe«. 9 Unter die beiden letztgenannten Gründe subsumieren sich u.a. Annahmen der Befragten hinsichtlich besserer Karriereaussichten und schnellerer Aufstiegschancen in der Türkei. Das Ergebnis der Studie wirft den Autoren zufolge daher auch die Frage nach der Diskriminierung Türkeistämmiger auf dem deutschen Arbeitsmarkt auf. Dieser Gedanke schließt an Untersuchungen zur Diskriminierung von Arbeitsuchenden türkischer Herkunft an. Kaas/Manger (2010) fanden heraus, dass Bewerber mit türkischklingendem Namen trotz deutscher Muttersprache und Staatsangehörigkeit schlechtere Chancen auf eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch haben als solche mit einem deutschen Namen. Studien der OECD (2007/2010) kommen zu dem Ergebnis, dass Akademiker aus Einwandererfamilien in Deutschland häufiger von Erwerbslosigkeit betroffen sind als Akademiker ohne Zuwanderungsgeschichte. Begründet werden diese Ergebnisse mit dem Verweis auf ethnische Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Deren tatsächliches Ausmaß lässt sich allerdings nur sehr schwer messen, da sie durch erhebliche strukturelle Nachteile der zweiten Migrantengeneration aufgrund niedriger Bildungsabschlüsse verschleiert wird, die eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt nach sich ziehen. 10 Besonders bei Frauen türkischer Herkunft lassen sich insgesamt niedrige Beschäftigungsquoten und damit ein eingeschränkter Arbeitsmarktzugang ablesen. 11 Es ist anzunehmen, dass (türkische) Einwandererinnen der Gefahr einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt sind, da sie sowohl aufgrund ihrer Herkunft (ethnische Diskriminierung) als auch ihres Geschlechts auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Dies könnte auch eine mögliche Begründung für das Ergebnis der TASD-Studie sein, wonach die befragten Frauen eine höhere Abwanderungsbereitschaft signalisierten als männliche Untersuchungsteilnehmer. 12 Darüber hinaus verfügen die zumeist aus Arbeiterfamilien – also nicht-akademischen Elternhäusern – stammenden Studierten türkischer Herkunft nicht über Netzwerke in akademische Beschäftigungssegmente hinein, sodass darin auch ein Grund für deren Benachteiligung auf dem deutschen Arbeitsmarkt gesehen werden kann.

Ergebnisse von Sievers et al. verweisen darauf, dass den erbrachten Leistungen von türkeistämmigen Bildungsaufsteigern in Deutschland nicht immer Anerkennung entgegengebracht wird. Die Autoren deuten an, dass ein Mangel an Anerkennung sowohl der Person als auch ihrer Leistungen eine Abwanderung aus Deutschland motivieren kann. 13 Sie verstehen unter Anerkennung die »Erfahrung von Zugehörigkeit und Respekt«. 14 Der Argumentation Honneths und Stojanovs zufolge, ist sie »fundamental für die soziale Existenz und für die gesellschaftliche Integration«. 15 Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in Forderungen nach einer ›Kultur der Anerkennung‹ bzw. einer ›Willkommenskultur‹ wider, die beispielsweise im Konzept der interkulturellen Öffnung (von Verwaltungen etc.) zum Tragen kommt.

Wirtschaftliche Wanderungsmotive
Ergebnisse aus qualitativen Studien zur Abwanderung hochqualifizierter Türkeistämmiger von Aydın/Pusch (noch nicht abgeschlossen) und Hanewinkel (2010, unveröffentlicht) bestätigen die Aussage der TASD-Studie nicht, wonach unvorteilhafte berufliche Perspektiven in Deutschland für die Befragten einen entscheidenden Migrationsfaktor bilden. Die Mehrzahl der Befragten sei vielmehr vor ihrer Migration in die Türkei auf dem deutschen Arbeitsmarkt gut integriert gewesen. Berufliche bzw. wirtschaftliche (Karriere-)Überlegungen spielten bei der Abwanderung aber dennoch eine wichtige Rolle. Dies betonen vor allem Aydın/Pusch. Zu den wirtschaftlichen Wanderungsgründen zählen Aspekte wie die Aussicht auf bessere Aufstiegschancen im Zielland, ein attraktiverer Job oder eine Verbesserung der finanziellen Situation. Theoretisch werden diese Migrationsmotive vor allem in neo-klassischen Push- und Pull-Modellen aufgegriffen. Dieser Ansatz fokussiert ein gewinnmaximierendes Individuum (homo oeconomicus), das sich unter rationalen Gesichtspunkten und unter Abwägung ökonomischer Vor- und Nachteile zweier Länder für die Migration entscheidet, sofern diese eine Verbesserung der eigenen wirtschaftlichen Situation verspricht. Kritisiert werden diese Modelle insofern, als sie individuelle (emotionale) Wanderungsmotive sowie den Einfluss sozialer Netzwerke (Familie, Verwandtschaft, Freundes- und Bekanntenkreise etc.) auf Wanderungsentscheidungen vernachlässigen.

Im Fall der türkeistämmigen Hochqualifizierten zeigt sich, dass die geographische Mobilität nicht selten auf einen beruflichen und sozialen Aufstieg zielt. 16 Die wachsende Präsenz deutscher Unternehmen in der Türkei ermöglicht die Migration durch eine Stellenvermittlung auf dem firmeninternen Arbeitsmarkt. Gesucht werden türkeistämmige Akademiker für Schlüsselpositionen in den türkischen Niederlassungen dieser Firmen aufgrund ihrer Sozialisation in der türkischen und der deutschen Gesellschaft sowie ihrer Kenntnisse beider Sprachen.

Attraktiv wirkt auch das seit einigen Jahren anhaltend hohe Wirtschaftswachstum in der Türkei. Nach einem konjunkturellen Einbruch in der Wirtschaftskrise 2008/09 erholte sich das Land schnell. Bereits 2010 verzeichnete die türkische Wirtschaft wieder ein beachtliches Wachstum von 8,9 Prozent. Der Aufwärtstrend setzte sich fort. Im ersten Halbjahr 2011 erzielte die türkische Wirtschaft mit durchschnittlich 10,2 Prozent die höchste Wachstumsrate weltweit, sodass die Türkei bereits als »neues China« bezeichnet wird. Im Vergleich dazu zeigt die deutsche Wirtschaft weit weniger Dynamik. Im Jahr 2011 verzeichnete sie ein Wachstum von vergleichsweise niedrigen 2,6 Prozent.

Besonders die West-Türkei ist Gewinnerin der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Dadurch bildet sich ein starkes strukturelles Gefälle zwischen dem wirtschaftlich boomenden Westen und dem landwirtschaftlich geprägten Osten. Die Suche nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen zieht große Teile der Landbevölkerung in die Städte. Vor allem Istanbul ist seit Jahren eine der Hauptaufnahmeregionen dieser Land-Stadt-Wanderungen.

Die Westtürkei ist auch das Hauptziel der aus Deutschland abwandernden türkeistämmigen Hochqualifizierten. Die Mehrzahl verschlägt es in Städte wie Izmir oder Istanbul, die als modern, kosmopolitisch und fortschrittlich gelten, westliche Lebensstile und die Aussicht auf einen europäischen Lebensstandard versprechen. Besonders weibliche Abwanderer präferieren diese Zielorte. 17 Hochqualifizierte türkeistämmige Frauen erhoffen sich, wie Hanewinkel (2010) herausgefunden hat, darüber hinaus von der Verlegung ihres Lebensmittelpunktes in die Türkei auch bessere Aufstiegschancen, da in der Türkei mehr weibliches Personal in Führungspositionen zu finden sei als in Deutschland.

»Also ich war mir hundertprozentig sicher mit meinen Qualifikationen, die ich habe, komme ich in der Türkei weiter als in Deutschland. Es gibt hier mehr Frauen an der Spitze als in Deutschland. Ich weiß nicht, ob das jeder weiß, aber es ist wirklich ein ganz wichtiger Hintergrund für mich…also was man beachten sollte einfach.« 18

Diese Einschätzung bestätigt eine Untersuchung der internationalen Unternehmensberatung Hay Group aus dem Jahr 2010. Demnach sind in Deutschland weniger Frauen sowohl in den unteren (Frauenanteil: ca. 20 Prozent) als auch in den Top-Führungspositionen (Frauenanteil: ca. 7 Prozent) vertreten als in der Türkei (untere Führungspositionen: ca. 30 Prozent; Top-Führungspositionen ca. 12 Prozent). Besonders gute Chancen haben Frauen im türkischen Bankensektor: In der mittleren Führungsetage sind 75 Prozent der Posten mit Frauen besetzt. Diese Zahlen stehen im Gegensatz zur allgemeinen Frauenbeschäftigungsquote in der Türkei, die mit nur 24 Prozent im OECD-Vergleich (ca. 58 Prozent) äußerst niedrig ist. 19

Die in Deutschland erworbenen Qualifikationen finden in der Türkei Anerkennung. In Istanbul befragte türkeistämmige Hochqualifizierte geben an, dass ein an einer deutschen Universität erworbener Bildungstitel in der Türkei hoch angesehen ist. Ebenso profitierten sie von ihren dort erworbenen Fremdsprachenkenntnissen sowie Arbeitserfahrungen in einem deutschen oder internationalen Unternehmen. 20

Während Sievers et al., Aydın/Pusch sowie die TASD-Studie das Gewicht von wirtschaftlichen Wanderungsmotiven für die Migrationsentscheidung selbst betonen, verweisen Ergebnisse von Hanewinkel (2010) in Bezug auf weibliche türkeistämmige Migrantinnen darauf, dass diese bei der Entscheidungsfindung eine eher untergeordnete Rolle spielen. Ihre Befragten gaben an, vor allem aus emotionalen Gründen in die Türkei gekommen zu sein (s.u.). Der Wunsch, einmal ausprobieren zu wollen, wie es ist, in der Türkei zu leben, wird zu einem essentiellen Teil der eigenen Selbstverwirklichungsidee:

»Es war IMMER Türkei im Hintergrund, also dass ich mal irgendwann wieder zurück will, einfach nur mal um es auszuprobieren, ob es klappt. Also nicht, weil ich unbedingt wieder in die Türkei will, sondern nur, weil ich mich gefragt hab, ob ich mich wohl fühle in Istanbul. […] Ich hab es aber wie gesagt immer über die Jahre im Hinterkopf, also wie so eine Hintertür quasi, die hab ich mir immer offen gehalten.« 21

Verwirklichen und in die Tat umsetzen lässt sich dieser Wunsch aber nur unter der Voraussetzung einer möglichen beruflichen Integration auf dem türkischen Arbeitsmarkt. Praktika während des Studiums – häufig absolviert in der türkischen Niederlassung eines deutschen Unternehmens – führen an den Arbeitsmarkt in der Türkei heran. Bereits die Studienwahl wird von einigen Befragten direkt an den (angenommenen) Bedürfnissen der türkischen Wirtschaft orientiert. 22

Während der Grund für die Abwanderung also ein emotionaler sein kann, gestaltet sich die Umsetzung des Migrationsvorhabens oft auf eine wirtschaftliche Art und Weise. Gleichzeitig ist anzumerken, dass Wanderungsentscheidungen zumeist nicht aus einem einzigen Grund getroffen werden, sondern dass verschiedene Motivlagen kumulieren, was dazu beiträgt, dass sich die Untersuchung von Migrationsentscheidungen als kompliziert erweist.

Auch wenn wirtschaftliche Faktoren vor der Migration eine durchaus untergeordnete Rolle spielen können und für die Migrationsentscheidung nicht zwangsläufig ausschlaggebend sind, gewinnen sie den Ergebnissen Hanewinkels zufolge nach der Migration an Bedeutung, denn: Die Befragten wollen auf ihren aus Deutschland gewohnten Lebensstandard nicht verzichten. Kurzfristig werden im direkten Anschluss an den Wechsel des Aufenthaltsstaates zwar finanzielle Einbußen in Kauf genommen, langfristig streben aber alle Befragten einen ihrem Leben in Deutschland ähnlichen oder höheren Lebensstandard an. Dies kann nur gelingen, indem sich die Migranten erfolgreich auf dem türkischen Arbeitsmarkt platzieren und eine ihren in Deutschland erworbenen Qualifikationen angemessene Anstellung mit entsprechender Vergütung finden. Vor allem in Städten wie Istanbul, in denen die Lebenshaltungskosten Umfragen zufolge aktuell z.T. diejenigen in deutschen Großstädten übersteigen 23, hat dies zur Konsequenz, dass die Anhäufung finanzieller Ressourcen von entscheidender Bedeutung auch für die Aufenthaltsdauer in der Türkei ist. Ergebnisse von Hanewinkel (2010) deuten an, dass eine Rückkehr nach Deutschland bzw. der Umzug in ein anderes Land dann wahrscheinlich wird, wenn sich deutliche Einbußen im Lebensstandard dauerhaft abzeichnen. Insgesamt kann die Migration in die Türkei also als ergebnisoffener Prozess interpretiert werden.

Emotionale Wanderungsmotive
Zu den nicht-ökonomischen Wanderungsmotiven zählen vielfältige Aspekte persönlicher ›Selbstverwirklichungspläne‹, die hier nicht umfassend erörtert werden können. Daher werden lediglich einige Akzente gesetzt, die die Bandbreite dieser Motivlagen aufzeigen sollen. Anstoß für die Migration hochqualifizierter Türkeistämmiger geben häufig familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen (Netzwerke) in die Türkei, die seit der Kindheit durch Familienurlaube gepflegt wurden. Dadurch entsteht auch das Gefühl, mit dem Leben in der Türkei bereits vertraut zu sein. Gefestigt wird es teilweise auch durch Studienaufenthalte in der Türkei (Auslandsemester). Damit bestätigen sich Ergebnisse der jüngeren Migrationsforschung, wonach Netzwerke, also soziale Kontakte ins Zielland sowie Vorerfahrungen im Ausland, beispielsweise in Form von Studienaufenthalten, Abwanderungsentscheidungen begünstigen. 24

Das Gefühl, mit dem Leben in der Türkei bereits vertraut zu sein, entsteht auch dadurch, dass viele der Abwanderer die Türkei nicht als Ausland betrachten, sondern sich diesem Land heimatlich verbunden fühlen. Im Gegensatz zur TASD-Studie, die »fehlendes Heimatgefühl in Deutschland« als einen der Hauptabwanderungsgründe ausmacht, weisen die Studien von Aydın/Pusch, Hanewinkel und Sievers et al. auf eine Doppelorientierung der hochqualifizierten Abwanderer türkischer Herkunft hin. Demnach sehen die Befragten nicht entweder Deutschland oder die Türkei als ihre Heimat an, sondern verstehen beide Länder als solche. Über soziale Netzwerke und Medien, aber auch die physische Bewegung selbst (Urlaube, Studienaufenthalte etc.) werden Beziehungen in beide Länder hinein gepflegt. Gestärkt wird ihr Bezug zur Türkei auch durch die eigenen Eltern, die oft als ›Gastarbeiter‹ nach Deutschland kamen. Die Mehrzahl der von Hanewinkel befragten Migrantinnen türkischer Herkunft berichtet davon, in der Kindheit und Jugend durch den Wunsch der Eltern nach einer Rückkehr in die Türkei geprägt worden zu sein. Dieser sei daran sichtbar geworden, dass die Familie symbolisch immer ›auf dem Sprung‹ gelebt habe:

»Zu Hause wurde nur türkisches Fernsehen gehört, es wurden nur türkische Zeitungen gelesen […] alle Pläne meiner Eltern bezogen sich auf die Türkei. Wir haben in Deutschland sehr spartanisch gelebt. Wir haben zum Beispiel nie neue Möbel gekauft. Immer benutzte Möbel, weil wir eh weg wollten. Das war 30 Jahre so, wir wollten 30 Jahre weg und haben keine Möbel gekauft.« 25

Für eine Befragte symbolisiert der Erwerb eines eigenen Hauses schließlich das Eingeständnis, dass der »Traum von der Rückkehr geplatzt« sei. Sie sieht sich selbst als älteste Tochter in der Verantwortung, den Traum ihrer Eltern doch noch in die Realität umzusetzen, der mit der Zeit auch zu ihrem eigenen Wunsch gereift sei.

Ob und inwieweit die Remigration ehemaliger ›Gastarbeiter‹, die oft im Rentenalter erfolgt 26, sich auf die Abwanderung der Nachfahren in die Türkei auswirkt bzw. inwieweit auch eine Abwanderung der zweiten Migrantengeneration zu einer Rückkehr der Eltern ins Heimatland beitragen kann, ist ungeklärt. Hanewinkels Untersuchungen legen nahe, dass eine Beeinflussung in beide Richtungen denkbar ist. Eine ihrer Befragten verlegte ihren Lebensmittelpunkt in die Türkei, da ihre Eltern nach einem langjährigen Aufenthalt in Deutschland dorthin zurückgekehrt waren. Eine andere Befragte schilderte, dass ihre eigene Migration in die Türkei ihre Eltern dazu veranlasste, lange gehegte Rückkehrpläne in die Tat umzusetzen. Da deren Kinder in Deutschland und in der Türkei leben, pendeln sie nun zwischen diesen beiden Ländern hin und her.

Neben familiären Bezügen in die Türkei kann auch eine Partnerschaft oder Heirat mit einer in der Türkei lebenden Person zu einer Abwanderung aus Deutschland führen, sofern sich eine Beziehung z.B. aufgrund der Berufstätigkeit des Partners in der Türkei besser realisieren zu lassen scheint als in Deutschland. 27

Die Attraktivität Istanbuls mit seinen vielfältigen Lebensstilen stellt einen weiteren emotionalen Grund für die Migration hochqualifizierter Türkeistämmiger in die Türkei dar. Facettenreiche Kultur- und Unterhaltungsangebote, die ›kulturelle‹ Vielfalt der Bevölkerung, aber auch die wirtschaftliche Aufbruchstimmung in der Bosporus-Metropole wirken attrahierend. 28 Im Vordergrund steht bei den Abwanderern nicht zwangsläufig der Wunsch nach einem Leben im Heimatland der Eltern, der Türkei, sondern ausdrücklich der Wunsch nach einem Leben in Istanbul:

»Istanbul war für mich immer eine Traumstadt. […] Also es war die Stadt eher, also Türkei jetzt nicht im Vordergrund unbedingt, es war erst Istanbul und DANN die Türkei vielleicht, also in Klammern die Türkei eher.« 29

Voraussetzungen für Einwanderung und Integration in der Türkei
Rechtlich ermöglicht wird die Einwanderung hochqualifizierter Türkeistämmiger vor allem durch die Option, als ehemalige türkische Staatsbürger oder deren Nachfahren eine sogenannte Mavi Kart (blaue Karte) beantragen zu können. Diese räumt ihnen weitreichende Rechte ein, wie beispielsweise das Recht auf Aufenthalt, Berufsausübung oder das Recht auf den Erwerb von Immobilien, ohne die für Ausländer geltenden Beschränkungen. Inhaber der Mavi Kart sind also weitestgehend türkischen Staatsbürgern gleichgestellt. Einschränkungen bestehen lediglich hinsichtlich des Wahlrechts und des Rechts, öffentliche Ämter zu bekleiden. Diese Rechte sind ausschließlich türkischen Staatsangehörigen vorbehalten. Mavi Kart und deutsche Staatsangehörigkeit erleichtern eine transnationale Lebensführung, da sie das Pendeln zwischen Deutschland und der Türkei uneingeschränkt ermöglichen.

Die Mavi Kart-Regelungen erleichtern eine (strukturelle 30 ) Integration in der Türkei, garantieren sie aber nicht. So wird beispielsweise die Anerkennung bestimmter im Ausland erworbener Qualifikationen nicht gewährleistet. Deren Anerkennung liegt in der Verantwortung des Türkischen Hochschulrates (YÖK = Yüksek Öğretim Kurulu), der die Anerkennung von Bildungstiteln, die nicht an einer türkischen Hochschule erworben wurden, an Auflagen binden und beispielsweise eine Nachqualifikation in Form eines Ausgleichsstudiums an einer türkischen Hochschule oder das Ablegen einer Angleichungsprüfung fordern kann. Hochqualifizierte Türkeistämmige mit einem an einer deutschen Universität erworbenen Diplom sind also grundsätzlich derselben Gefahr einer Nicht-Anerkennung ihrer Bildungsabschlüsse ausgesetzt wie Zuwanderer ohne türkische Herkunft.

Ergebnisse aus der Migrationsforschung weisen darauf hin, dass die Nicht-Anerkennung von im Heimatland erworbenen Qualifikationen dazu führt, dass Hochqualifizierte im Zuwanderungsland häufig in niedrig qualifizierten Beschäftigungsverhältnissen stehen. 31 Die Anerkennung des erworbenen institutionellen Kulturkapitals (Bourdieu) stellt also einen kritischen Moment in der Migration dar, von dem spätere Integrationsverläufe abhängen, da sie die Möglichkeiten der Platzierung auf dem Arbeitsmarkt im Zielland prägt. Hochqualifizierte Türkeistämmige entwickeln Strategien, um eine Entwertung ihrer in Deutschland erworbenen Bildungsabschlüsse zu vermeiden und sich erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt in der Türkei zu platzieren. Die Mehrzahl der von Hanewinkel befragten zwölf hochqualifizierten weiblichen (Re-)Migrantinnen übt Berufe aus, in denen sie vor allem ihre Kenntnisse der deutschen Sprache zur Geltung bringen können. Sie arbeiten in Istanbul in deutschen Kultur- und Bildungsinstitutionen wie dem Goethe-Institut und der Deutschen Schule, haben eine Anstellung in der türkischen Niederlassung eines deutschen Unternehmens oder arbeiten in engem Kontakt mit diesen. Ihre deutschen Hochschulabschlüsse, ihre Kenntnisse der deutschen und der türkischen Sprache sowie ihre Sozialisation in zwei ›Kulturen‹ können sie hier erfolgreich einbringen. Gleichzeitig geben sie an, in den deutschen Unternehmen auch die ›deutsche Arbeitseinstellung‹ zu finden.

Demgegenüber fällt vor allem der Einstieg in ein türkisches Unternehmen oft nicht leicht. Die Anpassung an Arbeitsabläufe und Arbeitsprozesse fordert Zeit und Energie. Beklagt werden sowohl ausgeprägte Hierarchien als auch das Konkurrenzdenken unter Kolleginnen und Kollegen. Die Befragten von Aydın/Pusch (2011) und Hanewinkel (2010) vermissen darüber hinaus (stereotype) ›deutsche Tugenden‹ wie Pünktlichkeit, Ordnung und klare Strukturen. Einige Befragte fühlen sich in der Türkei als Fremde. Sie machen häufig die Erfahrung, dass sie nicht, wie in zahlreichen Medienberichten signalisiert 32, mit offenen Armen empfangen werden. 33 Auch Gehälter, Tätigkeitsfelder oder Arbeitszeiten entsprechen oft nicht den Erwartungen.

Idealisierte Türkeibilder aus Kindheit und Jugend halten der Realität nicht stand. Die türkeistämmigen Migranten aus Deutschland werden in der Türkei als almancılar (Deutschländer) bezeichnet, ein Begriff, der eher negativ konnotiert ist und auf Vorurteile verweist. 34 All diese Faktoren können dazu führen, dass der Aufenthalt in der Türkei nur vorübergehend ist und eine Rückkehr nach Deutschland oder die Migration in ein anderes Land erfolgt. Angedeutet wird hier bereits, dass es sich bei der Abwanderung hochqualifizierter Türkeistämmiger aus Deutschland nicht zwangsläufig um einen Brain Drain handelt – wie die Medienberichterstattung immer wieder nahelegt. 35 Stattdessen weist eine allgemeine Rückkehrbereitschaft bzw. eine bereits tatsächlich erfolgte Rückkehr nach Deutschland auf das Phänomen der Brain Circulation hin.

Auch die Tatsache, dass viele der Abwanderer in der Türkei in deutschen Unternehmen oder Organisationen arbeiten, deutet darauf hin, dass sie der deutschen Wirtschaft weiterhin zur Verfügung stehen. Allgemein fällt auf, dass die Abwanderer weiterhin aktiv Kontakt zu Deutschland pflegen – durch Freundschaftsnetzwerke, regelmäßige Familienbesuche, über ihre Arbeitsstelle oder auch über deutsch-türkische Austauschplattformen wie den ›Rückkehrerstammtisch‹ in Istanbul. Dieser bringt einmal im Monat (hochqualifizierte) türkeistämmige Abwanderer aus Deutschland zusammen, die alle die Erfahrung teilen, einen großen Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht zu haben.

Identifikation und (ethnische) Selbstzuschreibungen
Die Erfahrung zweier unterschiedlicher gesellschaftlicher Bezugshorizonte wirft auch die Frage nach der Definition der eigenen Identität und ›ethnisch-kulturellen‹ Selbstzuschreibungen auf. Sowohl die Ergebnisse der quantitativen TASD-Studie von Sezer/Dağlar (2009) als auch die qualitativen Untersuchungen von Pusch/Aydın (2011), Hanewinkel (2010) und Sievers et al. (2010) verweisen auf individuell sehr unterschiedliche, facettenreiche Identifikationsmuster, die aber den Schluss tendenziell ›hybrider‹ Identitäten nahelegen.

So bezeichnen sich befragte Abwanderer etwa als »Deutsch-Türken«, »Deutsche mit türkischen Wurzeln«, »Deutsche mit Türkischkenntnissen« 36, »Türkin mit deutschem Pass« 37 oder – nationalstaatliche Rahmungen hinter sich lassend – auch als »Europäer« 38. Diese Selbstzuschreibungen sind nicht statisch, sondern wechseln situativ. Den durchaus spielerischen Umgang mit Identität führt eine Befragte Hanewinkels eindrücklich vor:

»Wenn ich mich jetzt über irgendwas Türkisches aufrege, bin ich auf einmal die absolut Deutsche, spreche dann auch nur Deutsch und reg mich auf Deutsch auf und genauso in Deutschland […], dann bin ich auf einmal die Türkin: „Also ihr wollt uns gar nicht!“ […] ich bin auch wirklich froh drum, dass ich so, wie ich will, und wenn ich will die Fronten wechseln kann. […] Also dieses Hin und Her gefällt mir eigentlich.« 39

Deutlich wird, dass Identität immer wieder aktiv und (z.T. auch zweckrational und gezielt) hergestellt wird. Gemeinsam ist vielen Befragten, dass sie ihr ›Deutschsein‹ erst durch ihren Aufenthalt in der Türkei entdeckt haben. 40

Last but not least: Abwanderung oder Rückkehr?
Handelt es sich bei der Migration hochqualifizierter Türkeistämmiger um eine Abwanderung oder eine ›Rückkehr‹ in die Türkei? Da die in den unterschiedlichen Studien Befragten der zweiten türkischen Migrantengeneration angehören, d.h. in Deutschland geboren wurden bzw. seit einer Einwanderung im Kindesalter einen großen Teil ihres Lebens dort verbracht haben, kann im engeren Sinne nicht von einer Rückkehr ins Herkunftsland gesprochen werden. Die Migration dieser Gruppe ist also weitgehend dem Kontext der ›Abwanderung‹ hochqualifizierter deutscher Staatsangehöriger zuzurechnen. 41

Die subjektive Sichtweise der Befragten kann von einer solchen Einordnung jedoch durchaus abweichen. Während die von Pusch/Aydın (2011) Interviewten ihre Migration in die Türkei durchweg als Abwanderung betrachten und erst eine Rückverlegung ihres Lebensmittelpunktes nach Deutschland als Rückkehr verstehen, zeichnet sich bei Hanewinkel (2010) ein anderes Bild ab. Die befragten hochqualifizierten türkeistämmigen Frauen betrachten sich mehrheitlich selbst als ›Rückkehrerinnen‹. Erklärungen für dieses (rhetorische) Selbstverständnis sieht die Autorin zum einen in der Übernahme dieses Begriffs in Anlehnung an den sich selbst so bezeichnenden ›Rückkehrerstammtisch‹ in Istanbul. Zum anderen verdeutlicht er die emotional-heimatliche Verbundenheit mit dem elterlichen Herkunftsland, zu dem der Kontakt durch Urlaube und verwandtschaftliche Beziehungsnetzwerke immer aufrechterhalten worden ist. Die Türkei wird als (zweite?!) Heimat verstanden. 42 Und in die Heimat wandert man nicht aus. Man kehrt in sie zurück.

Literatur

  1. Jacobsen (2009).
  2. Exodus bezeichnet im Alten Testament den Auszug der Israeliten aus Ägypten (2. Buch Mose), verweist also auf die Auswanderung eines ganzen Volkes, das unter einer schlechten Behandlung durch den Pharao litt. Wird Deutschland im übertragenen Sinne mit dem alttestamentarischen Ägypten gleichgesetzt, so stellt sich die Frage nach Diskriminierungserfahrungen von Personen türkischer Herkunft in Deutschland bzw. danach, wie es um die ›Willkommenskultur‹ in Deutschland steht.
  3. Die TASD-Studie vom Futureorg-Institut schätzt die Zahl der in Deutschland lebenden türkeistämmigen Akademiker auf 45.000–70.000 (Aydın 2010b, S. 7).
  4. Vgl. z.B. Dernbach/Schlicht (2009), Jacobsen (2009), Wierth (2009), Geiges (2011).
  5. Liljeberg/INFO (2011, S. 26). Im Vergleich zu den beiden Studien ist ein Blick auf die Abwanderungsbereitschaft in der Gesamtbevölkerung Deutschlands von Bedeutung. So zeigen Ergebnisse einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2007, dass 20 Prozent der Deutschen über 16 Jahre mit dem Gedanken spielten, aus Deutschland abzuwandern. Bei den Unter-Dreißigjährigen seien es sogar 33 Prozent. Eine andere Erhebung des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigt, dass zwar rund ein Viertel der über 16-Jährigen Abwanderungsgedanken hegt, konkrete Planungen aber nur selten getroffen wurden (Diehl et al. 2008, S. 51). Ein Abwanderungswunsch mündet also nicht zwangsläufig in eine tatsächliche Abwanderung.
  6. Liljeberg/INFO (2011, S. 33).
  7. Vgl. dazu auch Rebeggiani (2011).
  8. Ette/Sauer (2011). Allerdings weisen die Autoren darauf hin, dass mehr hochqualifizierte Deutsche aus dem Ausland wieder zurückkehren als Abwanderer ohne akademischen Abschluss (Ette/Sauer 2010a, S. 8). Demnach sind Akademiker insgesamt mobiler als Personen ohne Hochschulabschluss.
  9. Sezer/Dağlar (2009, S. 17).
  10. OECD (2005, S. 52 f.).
  11. Vgl. OECD (2005, S. 22).
  12. Sezer/Dağlar (2009, S. 7).
  13. Sievers et al. (2010, S. 65).
  14. Sievers et al. (2010, S. 71).
  15. Honneth/Stojanov (2006).
  16. Vgl. Pusch/Aydın (2011), Hanewinkel (2010).
  17. Sezer/Dağlar (2009, S. 21).
  18. Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010).
  19. Böhm et al. (2011, S. 1)
  20. Hanewinkel (2010).
  21. Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010).
  22. Hanewinkel (2010).
  23. Cost of Living Survey 2011 der Consulting Agentur Mercer: http://www.mercer.com/press-releases/1420615 (Zugriff: 4.1.2012): Istanbul liegt im weltweiten Städtevergleich auf Platz 70 (im Vorjahr: Platz 44) der teuersten Städte der Welt. Frankfurt a.M. schafft es als höchstplatzierte deutsche Stadt auf Platz 73 und liegt damit hinter der Bosporusmetropole.
  24. Beispielsweise belegten 2007 zwei Sondererhebungen für die Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) zur Abwanderungsbereitschaft und tatsächlichen Abwanderung von Deutschen, dass rund zwei Drittel der Befragten mit ernsthaften Abwanderungsgedanken und -plänen regelmäßig Kontakte in das potenzielle Zielland ihrer Auswanderung pflegten. Auch Vorerfahrungen mit Auslandsaufenthalten z.B. im Studium erhöhen die Abwanderungsbereitschaft und tragen zum Aufbau sozialer Netzwerke außerhalb Deutschlands bei (Diehl et al. 2008).
  25. Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010).
  26. Erlinghagen et al. (2009).
  27. Sievers et al.(2010), Hanewinkel (2010).
  28. Aydın/Pusch (2011), Hanewinkel (2010), Sievers et al. (2010).
  29. Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010).
  30. Strukturelle Integration wird hier als eine Platzierung auf dem Arbeitsmarkt verstanden.
  31. Vgl. Nohl et al. (2006).
  32. Vgl. z.B. Gottschlich (2010), Jacobsen (2009), Steinvorth (2010).
  33. Aydın/Pusch (2011, S. 34).
  34. Ausdruck finden Erfahrungen von Fremdheit und fehlender Zugehörigkeit in dem Sprichwort: Almanya’da yabancı, Türkiye’de almancı./In Deutschland Ausländer, in der Türkei Deutschländer.
  35. Vgl. z.B. Goeßmann (2008), Wierth (2009).
  36. Pusch/Aydın (2011).
  37. Hanewinkel (2010).
  38. Sievers et al. (2010).
  39. Interviewausschnitt, Hanewinkel (2010).
  40. Pusch/Aydın (2011), Hanewinkel (2010), Tirier (2010).
  41. 2005 wurde die höchste Zahl deutscher Abwanderer seit 1954 registriert. Erstmals seit den 1960er Jahren verließen mehr deutsche Staatsangehörige das Land, als im selben Zeitraum Menschen aus dem Ausland zuwanderten. Im Jahr 2008 lag der Netto-Wanderungsverlust auch unter Berücksichtigung des Spätaussiedlerzuzugs bei 66.428 Personen mit deutschem Pass (Ette/Sauer 2010 b, S. 11; BAMF 2010, S. 170).
  42. Auch Sievers et al. (2010, S. 100) bemerken eine plurilokale Verortung der von ihnen befragten »Transmigranten«. Ihre Untersuchungsteilnehmer sprechen ebenfalls davon, in die Türkei »zurückzukehren«. Zum Konzept und zur Konstruktion von ›Heimat‹ durch die erste bis dritte Generation Türkeistämmiger in Deutschland siehe auch Bozkurt (2009).