Die Neo-Moslems betreten die gesellschaftliche Bühne

Eren Güvercins porträtiert in seinem Buch „Neo-Moslems“ eine junge Generation deutscher Muslime. Doch wie ist diese Generation eigentlich entstanden? Der Versuch einer Ergänzung.

Das Reden über Generationen hat in Deutschland Tradition. Ob „68er“ oder „Generation Golf“, immer wieder konnten sich Generationslabels im kollektiven Gedächtnis der Deutschen festsetzen. Gut fünfzig Jahre nach Abschluss des Deutsch-Türkischen Anwerbeabkommens, durch das erstmals Muslime in großer Zahl nach Deutschland kamen, erscheint es daher nur konsequent, wenn der Journalist Eren Güvercin das erste deutsch-muslimische Generationsporträt vorlegt. Wie viele andere Porträtisten vor ihm unternimmt er darin den Versuch, Einstellung und Lebensgefühl seiner Altersgenossen auf den Punkt zu bringen. Er beschreibt allerdings nicht einfach nur das, was er um sich herum wahrnimmt, sondern macht vielmehr ein Identitätsangebot für eine Generation junger deutscher Muslime.

Güvercins oberste Botschaft lautet: Wir, die Neo-Moslems, sind in diesem Deutschland angekommen. Als Muslime und als Deutsche. Und er macht sich schnell daran, die Bedenken all jener zu entkräften, die in diesem Selbstverständnis immer noch einen Widerspruch sehen, denn: Ist die Kultur des Islams nicht unvereinbar mit der der Deutschen? Nein, so Güvercin, für die Neo-Moslems sei der Islam eben keine Kultur. Sondern eine Lebenspraxis, die vereinbar ist mit verschiedenen kulturellen Kontexten. Der Islam ist demnach nicht weniger, aber eben auch nicht mehr als seine fünf Säulen: Das Glaubensbekenntnis, das Fasten, die Pilgerfahrt nach Mekka, das tägliche Gebet und die Abgabe an Bedürftige und Arme. Indem sie sich auf die Essenz des Islam konzentrieren überwinden die Neo-Moslems die „verkorkste Vermischung von religiöser und kultureller Tradition und gehen auch mit ihrer Elterngeneration kritisch ins Gericht. An den zentralen Glaubensinhalten halten sie indes fest.

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Genauso wenig wie an eine bestimmte Kultur ist der Islam für Güvercin an eine bestimmte Ethnie oder Herkunft gebunden. Natürlich kommen die Eltern der meisten Neo-Moslems aus mehrheitlich islamisch geprägten Ländern wie der Türkei. Genauso finden sich aber auch deutsche Konvertiten unter ihnen. Entscheidend ist jedoch vielmehr, dass die Angehörigen dieser Generation in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Deutschland ist ihre Heimat und sie sind ihrem Selbstverständnis nach Deutsche. Ihre Sprache ist Deutsch, was einen wesentlichen Bestandteil ihrer muslimisch-deutschen Identität ausmacht. Anders als viele islamische Organisationen, die oftmals noch nach Ethnien und Nationalitäten getrennt sind, begreifen sich die die Neo-Moslems als natürlicher Teil der deutschen Gesellschaft fernab der ethnischen Herkunft.

Wer jetzt den Kopf schief legt und sich fragt, ob es die Neo-Moslems wirklich gibt, gar nach Zahlen und Beweisen verlangt, der ist auf der falschen Fährte. Güvercins Buch ist keine groß angelegte empirische Studie, sondern vielmehr eine Erzählung, die andere als ihre eigene erkennen können. Oder auch nicht. Nicht jeder junge Muslim in Deutschland wird sich in Güvercins Generationenporträt wiederfinden – das ist das Wesen von solchen Beschreibungen. Der große Akademikeranteil unter den Neo-Moslems, von dem Güvercin spricht, weist bereits darauf hin, dass hier vor allem von einer ganz bestimmten, hoch gebildeten und artikulationsfähigen Gruppe die Rede ist, die sich zudem durch starkes gesellschaftliches und politisches Engagement auszeichnet.

Dennoch lohnt es sich, einen Moment an diesem Punkt zu verharren und sich zu fragen, unter welchen Umständen sich die Generation der Neo-Moslems eigentlich herausgebildet hat. Auch wenn Güvercin einige Hinweise gibt, lässt er diese Frage im Wesentlichen beiseite, weshalb hier einige Überlegungen dazu angestellt werden sollen.

Auffällig ist zunächst, wie sehr die Neo-Moslems das aufgegeben haben, was Soziologen als „Herkunftslandorientierung“ bezeichnen. Während für viele aus der so genannten Gastarbeitergeneration der Koffer gewissermaßen immer fertig gepackt in der Ecke stand, packen die Neo-Moslems ihre Koffer nur noch, um damit in den Urlaub zu fahren. Vielleicht auch in die Türkei. Anders als ihre Eltern sehen sie sich nicht länger als Gäste in Deutschland, sondern als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Wandels liegt dabei auch im veränderten Staatsbürgerschaftsrecht. Während es lange Zeit fast unmöglich war, als Zugewanderter die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen, wurde dies in den neunziger Jahren, wenn auch langsam, erleichtert. Dass die Neo-Moslems einen deutschen Pass besitzen, trägt wesentlich zur Identifikation mit Deutschland bei und regt zudem zur Partizipation in zivilgesellschaftlichen Gruppen und Parteien an. Wer wählen darf, interessiert sich zudem eher für die politischen Vorkommnisse im Land.

Entscheidend ist dabei aber nicht nur, dass die Neo-Moslems einen deutschen Pass haben. Den haben viele aus den älteren Generationen mittlerweile auch. Viel relevanter ist, dass sie ihn verhältnismäßig früh in ihrem Leben erhielten – und damit auch ein Signal, dazuzugehören, was ihren Eltern lange verwehrt geblieben war. Dies zeigt sich auch in anderen Bereichen. Die Politik interessierte sich über Jahrzehnte nicht für die religiösen Bedürfnisse der Muslime. In Selbstorganisation entstanden so zahlreiche islamische Verbände, die aber seitens des Staates nicht anerkannt wurden. Der Islam blieb gegenüber dem Christentum lange benachteiligt. Doch auch hier hat sich im letzten Jahrzehnt einiges getan. Trotz der Erfahrung zunehmender Islamophobie zwischen dem 11. September 2001 und der Sarrazin-Debatte des Jahres 2010 gab es eine Reihe positiver Zäsuren: CDU-Politiker Schäuble initiierte die Islamkonferenz, auf der – trotz aller späteren Probleme – Muslime auf Augenhöhe in einen Dialog mit dem Staat eintreten konnten. Ausserdem prägte er den Satz vom Islam als einem Teil Deutschlands, den später Bundespräsident Wulff aufgriff. Kürzlich gelang zudem in einigen Bundesländern der Durchbruch bei der Einführung des islamischen Religionsunterrichts und auch die etablierten Parteien zeigen sich zunehmend offener für muslimischen Nachwuchs.

Kurzum: Die Generation junger Muslime wächst gegenwärtig in einer Gesellschaft auf, die ihr mit einer größeren Offenheit begegnet als dies noch bei ihren Eltern der Fall war. Hieraus schöpfen sich ihr Selbstverständnis als Deutsche sowie ihr Selbstbewusstsein, diese Gesellschaft mitgestalten zu wollen. Güvercin jedenfalls sieht die Neo-Moslems auch in der Pflicht, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Sie sollen sich in gesellschaftliche Debatten einmischen, sich auch mit Kritik am Islam und den Ängsten in der Bevölkerung auseinandersetzen.

Güvercin kommt seinem eigenen Anspruch nach, indem er selbst einige spannende Vorschläge präsentiert, wie den nach einer islamischen Zivilgesellschaft in Deutschland. Er verweist darauf, dass die Moschee historisch nie nur ein Gebetsraum, sondern immer auch eine soziale Einrichtung mit Armenküche, Bibliothek, Krankenhaus und Stiftungen war. An dieses Modell solle man abknüpfen und Umkreis der Moschee Dienstleistungen für Muslime und Nicht-Muslime anbieten. Darüber hinaus versucht Güvercin als Initiator der „alternativen Islamkonferenz“, eine innermuslimische Debatte anzuregen, in der Verbände und Einzelpersonen über die Zukunft der muslimischen Zivilgesellschaft in Deutschland streiten können.

Denn auch das wird in Güvercins Buch klar: Keiner der bestehende Ansätze, das Wesen des Islams und seinen Ort in der deutschen Gesellschaft zu bestimmen – auch seine eigenen nicht – ist unumstritten. Ganz offen benennt Güvercin den Konflikt mit den Vertretern eines „liberalen Islams“ um Lamya Kaddor. Allerdings streckt er auch gleichzeitig die Hand aus, indem er den Liberal-Islamischen Bund zur alternativen Islamkonferenz einlädt. Und Güvercin hat recht, wenn er darauf verweist, dass Pluralismus ein grundlegender Wesenszug des Islams ist – einer Religion, der hierarchische Strukturen und Autoritäten im Grunde fremd sind.

Die Neo-Moslems jedenfalls wollen in Zukunft bei der Gestaltung des Landes mitmischen. Wird sich Güvercin mit seinem Generationenporträt durchsetzen? Das hängt – wie auch bei vielen anderen Generationen in Deutschland – davon ab, wie viele Generationsangehörige sich melden werden.