Buchtipp zum Wochenende

„Warten auf die Angst“ von Oğuz Atay

Von intensiven, wirren Gedankenströmungen, die so genial sind, dass man sie auch als verrückt bezeichnen könnte. Gelesen und rezensiert von Rukiye Cankıran.

Einsam mitten in einer Großstadt, voller Angst vor etwas, das nicht existiert und in der Seele oder -wenn man so will- im Geist eine immer größer werdende Leere. Das sind Zustände, auf die Oğuz Atay (1934-1977) in seinen Erzählungen eingeht. „Warten auf die Angst“ ist das erste Buch, das der Berliner binooki Verlag herausgegeben hat. Es ist seit März dieses Jahres auf Deutsch erhältlich. Mit dem Originaltitel „Korkuyu beklerken“ ist der Erzählband bereits 1973 in der Türkei erschienen.

Oğuz Atay, geboren als Sohn eines Richters und einer Grundschullehrerin, studierte Bauingenieurwesen an der Technischen Universität Istanbul. Später war er dort auch als Dozent für Bauwesen tätig. 1972 erschien sein erster Roman “Tutunamayanlar” (“Die Haltlosen”), ein Jahr später 1973 dann “Tehlikeli Oyunlar” (“Gefährliche Spiele). In deutscher Sprache liegt bereits sein Roman “Der Mathematiker” (Original: “Bir Bilim Adamının Romanı’1975) vor, herausgegeben 2009 vom Unionsverlag.

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Während der Autor sich in seinen frühen Werken einer komplizierten Erzähltechnik bedient, kann der Leser seine Begeisterung für die Kunst des Denkens in “Der Mathematiker”mit erleben. Oğuz Atay erzählt in diesem Roman die Lebensgeschichte seines eigenen Hochschullehrers Mustafa Inan an der Technischen Universität Istanbul. Es fällt ihm leicht über Themen wie die Mathematik, das logische und klare Denken und die intensiven Gedanken während des Denkens zu schreiben. Er ist schließlich vom Fach.

„Warten auf die Angst“ ist das Werk eines „durchgeknallten Kerls“ – wie die Herausgeberin Selma Wels vom binooki Verlag formuliert. Dieser Kerl kann sowohl mit Zahlen als auch mit Worten jonglieren. Selma Wels hat gemeinsam mit ihrer Kollegin und Schwester Inci Bürhaniye den Verlag 2011 gegründet, um in einer „klischeefreien Zone türkischen Autoren eine deutsche Stimme zu geben“. Mit Oğuz Atay ist der Startschuss gefallen.

Bestellung: Das Buch „Warten auf die Angst“ von Oğuz Atay kann bestellt werden direkt beim binooki Verlag.

In seinen Kurzgeschichten nimmt der Erzähler Oğuz Atay den Leser mit in die Welt seiner ungewöhnlichen Figuren, er taucht ein in deren übertriebene Denkströmungen, beschreibt manchmal unsinnige Inhalte und Zusammenhänge, die manch bizarres Verhalten seiner Protagonisten erklären. Es ist eine außerordentliche Intensität und Kreativität in seinen Worten, die den Leser gelegentlich anstrengt, aber in jedem Fall an die Lektüre fesselt. Der Leser hat das Gefühl in der Welt eines Geisteskranken zu sein, der so überfordert ist mit den vielen Strömungen in seinem Gehirn, dass er völlig vereinsamt und voller Angst mit sich selbst im Kampf ist. „Ich muss Tagebuch führen; ich muss wenigstens die Entwicklung oder den Zusammenbruch meiner Gedanken im Blick haben“ denkt sein Protagonist von „Warten auf die Angst“.

Er hat einen Brief von einem geheimen Orden erhalten, der sein Leben auf den Kopf stellt. Wirre Gedanken ohne Zusammenhang quälen ihn. Liegt es an der Einsamkeit, die eine verlorene Seele in der Großstadt krank macht oder ist es die gestörte Persönlichkeit, die in der Großstadt keinen Halt findet?

Ähnlich ergeht es dem Sohn aus einer anderen Erzählung, der seinem verstorbenen Vater einen Brief schreibt, nachdem er jahrelang dachte, dass ihn mit dem Tod seines Vaters ein leichteres Leben erwartet und mit dessen Tod dann doch feststellt, dass nicht sein Vater sondern er selber schuld an den eigenen Missständen ist. Der Brief klingt wie eine Abrechnung mit dem Vater, ist aber im Grunde ein Erwachsenwerden und der Versuch in der Gesellschaft einen Platz zu finden, statt immer nur einsam und „versteinert in die Leere zu starren“.

Nicht viel anders geht es dem Geschichtenerzähler der Eisenbahn, der in einer Hütte auf dem Gelände des Bahnhofs lebt und Kurzgeschichten schreibt, die er an Reisende verkauft. Manche lesen die Geschichten, andere drehen Tabak mit dem Papier. „Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit“ quälen den kreativen Bahnhofs-Schreiber. Er hat keine Beziehung zur Außenwelt, lebt abgeschottet in seiner Hütte. Seine Nachbarn und Kollegen sind ein kranker Jude, der irgendwann stirbt und eine junge Frau, die seine Geliebte wird und irgendwann mit einem Zug wegfährt. Der Schreiber ist verzweifelt und voller Angst, immer auf der Suche nach Lesern.

Oğuz Atay fasziniert seine Leser mit einem sehr intimen Einblick in das Leben von gescheiterten Existenzen. Er zeigt auch ihre liebenswürdigen Seiten, ihre Fehler, vielleicht sind sie dem Leser deshalb auf eine Art sympathisch. Würde man diese Menschen tatsächlich treffen, täte man vielleicht einen Schritt zurück, erschrocken über ihr Aussehen, wie z.B. dem „Mann mit dem weißen Damenmantel“. Vielleicht hätte man gar Mitleid mit diesen Kreaturen, aber eher wird man Angst haben, weil sie so verstört wirken oder sogar Ekel empfinden, weil sie so verwahrlost sind. Andererseits werden Abgründe beschrieben, die jeder kennt, die verborgene düstere Seite, die in vielen Menschen steckt, die aber im Alltag in Vergessenheit gerät. Die Vorstellungskraft mit der der Autor Ideen entwickelt ist faszinierend. In diesen extremen Abgründen hat der Leser manchmal das Gefühl, dass das Gleichgewicht schwankt, aber genau das lässt ihn nicht mehr los und er liest weiter und taucht immer tiefer und tiefer ein. Handelt der Leser etwa genauso zwanghaft wie die Helden von Oğuz Atay?

Wenn man zulässt, dass die eigenen Gedanken in die Phantasiewelt eintauchen, den wirren Strukturen folgen und am Ende der Geschichte man sich mit klaren neuen Gedanken auf das nächste Abenteuer einlässt, bleibt die Welt in Ordnung und man erkennt das Genie, das in dem Schriftsteller steckt.

Trotz eines sehr kurzen Lebens und einer winzigen Schaffenszeit von nur knapp sieben Jahren ist es Oğuz Atay gelungen, einer der bedeutendsten Vertreter der türkischen Prosa zu werden. In seinen Werken gibt er insbesondere Intellektuellen, denen es nicht gelingt, in der modernen, hektischen, lauten und komplizierten Welt ihren Platz zu finden, eine Stimme und Raum für ihre Ängste und Zweifel. Außenstehende mögen diese als krank oder verrückt bezeichnen, Mitfühlende werden seine Darstellungen als präzise und grandios bezeichnen. Überhaupt verschwimmt die Grenze zwischen Genialität und Wahnsinn doch häufig, ohne dass man es merkt, wenn man betroffen ist. Es ist schön, dass ein Literat den Mut und die Worte findet, um diese Zustände festzuhalten. Und es ist ein Genuss diese Worte zu lesen.