Lamyas Welt

Und ewig schreckt die Scharia…

Wenn das Wort Scharia fällt, ist bei vielen Menschen die Verunsicherung groß. Nicht ohne Grund. Denn Scharia ist eines der am häufigsten missverstandenen Schlagworte im Islam, schreibt Lamya Kaddor.

Ein Begriff in der Debatte um den Islam sorgt bei vielen Menschen seit Jahren für Ungewissheit, um nicht zu sagen für Angst: Scharia!
Wenn dieses Stichwort wie jetzt in der Debatte um die Koran-Verteilungen der Salafisten fällt, schweifen die Gedanken sofort zu Schauergeschichten ab: vom Handabhacken, von Steinigungen, Zwangsverheiratungen, Gewalt gegen Frauen, vom Umgang mit „Ungläubigen“ und anderem mehr. „Scharia und Demokratie – das geht mitnichten zusammen“, meinen die einen. Und da können sie durchaus recht haben. Die Einschätzung hängt nämlich davon ab, was man unter Scharia versteht bzw. was man unter Scharia verstehen will.

Scharia ist eines der am häufigsten missverstandenen Schlagworte und Konzepte im Islam. Nähern wir uns der Scharia in ganz anschaulicher Weise aus Sicht einer Muslima. Der Begriff stammt aus dem Arabischen und bezeichnet zunächst einmal – das heißt in vorislamischer Zeit – ganz plastisch einen Weg, der in der Wüste zu einer Tränke führt. Ihn zu kennen, ist also überlebenswichtig.

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Davon ausgehend bezeichnet der Begriff im übertragenen, theologischen Sinn einen Weg durch das Diesseits, der durch die Pforte des Todes geradewegs zu Gott ins Paradies führt. Auch diesen Weg zu finden, ist im Grunde „überlebenswichtig“. Damit einem Mensch dies gelingen kann, hat Gott Hinweise hinterlassen. Diese Hinweise sind seine Gebote, und diese Gebote sind im Koran und in der Sunna niedergelegt. Seine Gebote bestehen wiederum darin, wie sich der Mensch zu verhalten hat – einmal in Bezug auf Gott selbst (Stichwort: Schahada, Gebet etc.) und einmal in Bezug auf die Mitmenschen. Da sich der Islam somit in seiner ursprünglichen Theorie sowohl detailliert mit Glaubensfragen als auch sozialen und politischen Belangen der Gemeinschaft aller Muslime, der Umma, befasst, ist die Scharia religiöses und gesellschaftliches „Recht“ zugleich. Soweit die Theorie.

In der Praxis wird dieser Anspruch nirgends eingelöst. Kein islamischer Staat in Geschichte und Gegenwart, keine islamische Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart fußt allein auf dem Fundament der Scharia – mit Ausnahme derjenigen zu Muhammads Lebzeiten. Jedes andere Staatswesen in der islamischen Welt verfügte und verfügt über ein von Menschen aufgestelltes Rechtssystem aus Zivil- und Strafrecht. Vielfach wird die Scharia nur noch als religiöses Recht und höchstens in bestimmten Bereichen wie etwa in Familienangelegenheiten als Ergänzung herangezogen.

Die Ursache dafür hat nicht unbedingt mit säkularen Weltanschauungen der Staatsregierungen oder sonstigen Überzeugungen zu tun, sondern ist ganz einfach pragmatischer Natur. Die Gebote Gottes zu erkennen, ist nicht immer leicht. Zum einen sind sie häufig nicht eindeutig formuliert, zum anderen werden nicht alle Punkte menschlichen Daseins konkret angesprochen. Man denke etwa an rechtliche Bestimmungen in der Stammzellenforschung oder an so genannte hochspekulative Leerverkäufe in der Finanzwirtschaft. Hier lassen sich weder im Koran noch in der Sunna direkte Hinweise auf die göttliche Beurteilung dieses Verhaltens finden. Wie auch, vor 1.400 Jahren? Als kein Mensch über solche Dinge nachdenken konnte. Weil niemand davon Kenntnis hatte.

Und dennoch glauben wir Muslime, dass Gott uns in Koran und Sunna alles, was wir benötigen, mit auf den Weg gegeben hat. Das ist nicht falsch und auch nicht töricht. Es lassen sich selbst auf Fragen des 21. Jahrhunderts Antworten darin finden. Der Schlüssel dazu liegt in der Interpretation!

Die zentrale Eigenschaft von Interpretation lautet nun: Verschiedene Menschen können zu verschiedenen Erkenntnissen kommen. Genau das ist durch alle Jahrhunderte der Existenz des Islam Realität geworden, wie man in unzähligen Büchern nachlesen kann. Und demzufolge ist die Scharia als Konzept vor allem eines: flexibel. Es gibt keine alleinige, universell gültige Version. Die Scharia ist nicht kodifiziert. Sie ist nicht der festgefügte Gesetzestext, für den sie so viele Menschen halten. Es gibt keine Paragrafen, unter denen man allgemeinverbindlich nachschlagen könnte. Die Scharia ist eine Form, die immer wieder neu befüllt werden muss. Manche Muslime vertreten die Auffassung, die Steinigung sei in bestimmten Fällen ein von Gott gebotenes Verhalten. Für sie ist sie Teil der Scharia. Manche Christen vertreten die Auffassung, Auge um Auge, Zahn um Zahn sei ein von Gott gebotenes Verhalten. Für sie ist dies Teil des christlichen Weges zu Gott. Im Folgenden soll es nun im Detail darum gehen, warum man die Scharia nur als ein solches, offenes System, wie hier beschrieben, verstehen kann.

Wege der Urteilsfindung
Wenn ein Muslim ein „Problem“ im theologischen Sinne hat, das heißt, er will wissen, wie Gott zu diesem oder jenem Verhalten steht, um sich an die Scharia zu halten, dann hat er mehrere Möglichkeiten, zu einer Lösung bzw. zu einem Urteil zu gelangen.

Die erste Quelle der Urteilsfindung ist der Koran und im besten Fall findet er hierin bereits die Antwort auf seine Frage.

Nach muslimischem Verständnis stellt der Koran das direkt an Muhammad überlieferte Wort Gottes dar. Man spricht vom Koran als Inliberation, analog dazu von Jesus im Christentum als Inkarnation Gottes auf Erden. Im Islam ist Gott das gesprochene und anschließend niedergeschriebene Wort, das sich nach der kanonisierten Zusammenstellung durch den dritten Kalifen Uthman im heutigen Koran wiederfindet. Muhammad sollte dieses Wort als „Auserwählter“ (so sein Beiname al-Mustafâ) lediglich verkünden. Der Koran ist leider weitgehend zusammenhangslos angeordnet worden und besteht aus einzelnen Versatzstücken. Zudem erfolgen die Aussagen in den einzelnen Versen überwiegend indirekt, selten sind sie präzise und mitunter sogar rätselhaft. Der Koran ist also alles andere als ein Gesetzbuch im modernen juristischen Sinn. In der Regel findet der Muslim im Koran daher keine klare Antwort auf seine Fragen.

Als zweite Instanz zur Urteilsfindung steht dann die Sunna zur Verfügung. Sie bildet ein riesiges Gerüst an Material über die Aussagen und Handlungen des Propheten Muhammad, an dessen Vorbild sich die Menschen gemäß Koran (z.B. 8/20: „Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott und Seinem Gesandten“.) orientieren sollen. Dieses Material wird in sogenannten Hadithen einzeln überliefert.

Bereits früh nach dem Tod des Propheten erkannte man, dass eine Reihe von gefälschten Hadithen im Umlauf war. Viele Aussprüche und Handlungen, die der Prophet angeblich so getätigt haben soll, waren frei erfunden. Das geschah deshalb, da von Hadithen eine große Macht ausging, denn wer wollte – vor allem damals – schon widersprechen, wenn sich jemand auf den Propheten höchst selbst berufen konnte.

Die Muslime entwickelten in der Folge die Hadithwissenschaft, die jede Überlieferung überprüft und anschließend in mindestens drei Kategorien der Authentizität unterteilte: Sahîh (echt), Hasan (gut), Da´îf (schwach).

Aufgrund dieser problematischen Genese der Sunna ist es auch schwierig, in diesem Textkorpus eine eindeutige Antwort auf die Frage nach der göttlichen Bewertung einer Handlung zu finden. Zudem ist selbstverständlich auch in der Sunna nicht jedes Themengebiet abgedeckt.

Die islamische Rechtsordnung kann daher nicht allein auf dem Koran und der Sunna basieren. Sollten beide nicht zu einer Auskunft bzw. Lösung des Problems führen, so kann man den Qiyâs (Analogieschluss) anwenden. Beispielsweise wurde auf diese Weise das koranische Verbot des Weingenusses auf sämtliche alkoholischen Getränke ausgedehnt.

Verkürzt gesagt, ging man dabei wie folgt vor: Warum ist Wein verboten? Weil er berauscht? Warum berauscht er? Weil er Alkohol enthält. Wenn Alkohol der Grund dafür ist, dass Gott Wein verboten hat, dann muss analog dazu auch alles andere verboten sein, das Alkohol enthält oder berauscht.

Falls auch der Qiyâs immer noch nicht zu einem Urteil führt, kommt das Prinzip des Igmâ´ zur Geltung. Damit ist der Konsens der islamischen Gemeinschaft gemeint, der vor allem auf dem berühmten Hadith gründet: „Meine Gemeinde wird sich nie auf einen Irrtum einigen“.

Anders ausgedrückt heißt dies: Stimmen alle in einer Frage überein, dann ist damit Gottes Wille eruiert worden, dann findet diese Übereinkunft Eingang in die Scharia. Nun gibt es allerdings unterschiedliche Auffassungen darüber, wer sich zu dem Konsens zusammenfinden muss: alle bedeutenden Rechtsgelehrten einer Generation, alle Rechtsgelehrten der ersten und zweiten Generation nach Muhammad, alle islamischen Rechtsgelehrten der Menschheitsgeschichte, alle Muslime einer Generation und so weiter.

Wenn der Muslim auch hier keine Antwort auf seine Fragen findet, hat ihm die islamische Theologie noch weitere Rechtsfindungsinstrumente bzw. Methoden an die Hand gegeben. Insgesamt sind es zehn, nach manchen Ansichten auch zwölf. Auf deren genauere Betrachtung möchte ich jedoch mit Bedacht auf den Umfang verzichten.

Die göttlichen Beurteilungskategorien menschlichen Handelns
Die Antworten, die man aus den islamischen Rechtsquellen auf die Frage, wie Gott dieses oder jenes Verhalten beurteilt, finden kann, lassen sich in fünf Kategorien einteilen:

Das Zeitproblem
Wie bereits angedeutet, sind die Textkorpora Koran und Sunna vor 1.400 Jahren entstanden. Sie stammen also aus einer Zeit, die von heute aus betrachtet, völlig andere Wertemaßstäbe, völlig andere Moralvorstellungen, völlig andere gesellschaftliche Grundlagen hatte. Zudem liegen die Ursprünge des Islam bekanntlich auf der arabischen Halbinsel, so dass auch rein geografisch völlig andere Voraussetzungen galten, als etwa im heutigen Mitteleuropa – die Dauer des Tages, klimatische Belastungen etwa durch Hitze, Mühsale des Lebens in der Wüste.

Ein Verständnis von der Scharia, das damalige, also jahrhundertealte Beurteilungen für das gesellschaftliche Zusammenleben – nicht für das Verhalten des Menschen gegenüber Gott (!) – selbst heute noch für gültig erklären will. Ein solches Verständnis von Scharia ist mit der Demokratie dieses Landes definitiv nicht vereinbar. Und nicht nur das, es ist insgesamt mit der Moderne nicht vereinbar.

Fundamentalisten wollen das Verständnis von der in früheren Jahrhunderten ausgearbeiteten Regelung sozialer Fragen trotzdem als richtig und ewig verbindlich betrachten – ein solcher Weg, mehr oder weniger konsequent gegangen, führte bspw. geradewegs zum Staatswesen der Taliban in Afghanistan.

Nicht nur Fundamentalisten sondern auch konservative Muslime vertreten in abgeschwächter Form die Meinung, dass etwas, was vor eintausend Jahren im Zusammenleben der Menschen geboten war, auch heute noch geboten sein muss. Sie sind davon überzeugt, dass das damalige Gedankengebäude erhalten zu bleiben hat, und jede Änderung daran eine Verfälschung des Glaubens darstellt. Je nach Ausprägung ihrer Einstellung gehören für sie zu dieser Konservierung traditionelle Rollenbilder von Mann und Frauen oder eben Phänomene wie die Steinigung bei Ehebruch oder das Handabhacken bei Diebstahl.

Insbesondere aus dem Kreis der Fundamentalisten und Konservativen treten nun einige dafür ein, ihr Verständnis von der Scharia zum allgemein gültigen in der und für die Gesellschaft zu machen. Diese Leute betreiben Islamismus. Sie wollen die Gesellschaft ihren Regeln unterwerfen. Einige agitieren in Wort und Schrift, andere greifen zur Gewalt.

Was die meisten von ihnen verkennen, ist, dass sie mit ihrer Haltung längst eben jener Beliebigkeit anheimgefallen sind, die sie vorgeben zu bekämpfen. Sie geben zwar vor, alles Recht und Gesetz aus der Scharia ableiten zu wollen, aber nicht einmal in Saudi-Arabien reicht die Scharia aus, um eine moderne Gesellschaft zu organisieren. Und nicht einmal unter den Taliban verzichteten die Menschen auf das Auto und ritten nach dem Vorbild des Propheten Mohammed, dem sie stets im allem zu folgen vorgaben, auf Kamelen. Und nicht einmal unter den Taliban sprachen sie sich offen für die landesweite Wiedereinführung der Sklaverei aus. Dabei war sie zur Zeit der Herabsendung des Korans selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaftsordnung, die viele Fundamentalisten und Konservative wiederum als ideal verstehen wollen und deren Restauration sie für erstrebenswert halten.

Zeitgemäßes Verständnis
Auffassungen von der Scharia können also zum Problem werden. Die Scharia selbst kann es nicht. Denn Gott hat den Muslimen einen idealen Dienst erwiesen: Unausweichlich hat er – wie bereits erwähnt – vor das Verständnis der Scharia die Interpretation gesetzt. Erst dieses Erfordernis einer Interpretation verleiht ihr die nötige Orts- und Zeitunabhängigkeit, die sie braucht, damit sie durch die fortschreitenden Jahrhunderte hindurch Gültigkeit behalten kann.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal: Um sich ein Bild von der Scharia zu machen, muss man erkennen, wie Gott menschliches Verhalten untereinander beurteilt. Nun kann diese Beurteilung nur vor dem jeweiligen Wissensstand einer Generation vorgenommen werden. Jede Handlung findet schließlich in einem bestimmten Kontext statt. Und dieser Kontext ändert sich im Laufe der Zeit.

Würde sich Gott heute, in einer völlig veränderten Welt – verglichen mit der Arabischen Halbinsel vor 1.400 Jahren – noch einmal bspw. in Deutschland offenbaren, würde er es zu aller erst nicht in derselben Sprache machen, in der er es im Koran getan hat; er würde heute ja kaum verstanden. Warum sollte er auch heute vor dem Übel warnen, das von Leuten ausgeht, die auf Knoten spucken wie es in Koran 113/4 heißt? Und was sollte man auch mit der Aufforderung in Koran 4/92 anfangen, wonach man als Sühneleistung einen gläubigen Sklaven freilassen und Blutgeld bezahlen muss, wenn man aus Versehen einen Gläubigen getötet hat? Wenn Gott im Hier und Jetzt sprechen würde, müsste er sich adäquat ausdrücken, damit wir ihn überhaupt verstehen könnten.

Aber er spricht heute nicht mehr. Uns bleiben also nur Koran und Sunna, und deren Wortlaut – das liegt ja in der Natur der Sache – bleibt nun mal immer gleich.

Sollen sich die islamischen Quellen und die gesellschaftlichen Realitäten also nicht immer weiter voneinander entfernen, dann MUSS es sogar im Interesse aller Muslime liegen, die Interpretation der Quellen und damit das Verständnis von ihnen anzupassen. Dann MUSS man die islamischen Quellen vor dem jeweils neuen Hintergrund des Hier und Jetzt sehen. Aus meiner Sicht ermöglicht die Scharia das nicht nur, sondern sie fordert es geradezu. Allerdings wird eben ein solches zeitgemäßes Verständnis von Scharia durch fundamentalistische/konservative Strömungen, die um ihre Deutungshoheit des Islam fürchten, bekämpft und enorm erschwert.