Anonymisierung wirkt

Antidiskriminierungsstelle zieht positives Fazit des Pilotprojekts „Anonymisierte Bewerbungsverfahren“

Die Evaluierung des Pilotprojekts hat gezeigt, dass in anonymisierten Bewerbungsverfahren Chancengleichheit für alle herrscht. Migranten und Frauen haben hier bessere Chancen, zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden.

Mittwoch, 18.04.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 24.04.2012, 0:02 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt ist weit verbreitet. Vor allem Migranten, ältere Arbeitsuchende und Frauen mit Kindern werden in Bewerbungsverfahren benachteiligt. Belegt wurde das bereits mehrfach. So geht aus einer Studie für den deutschen Arbeitsmarkt hervor, dass bei gleicher Qualifikation allein die Angabe eines türkisch klingenden Namens die Chance auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch für ein Praktikum verringert – durchschnittlich um 14 Prozent, bei mittleren und kleinen Unternehmen sogar um 24 Prozent.

Um diesem Missstand ein Ende zu setzen, startete die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), ein Pilotprojekt zu anonymisierten Bewerbungsverfahren. Daran hatten sich im Zeitraum von November 2010 bis Dezember 2011 fünf Unternehmen und drei öffentliche Arbeitgeber beteiligt; 246 Stellen wurden besetzt, mehr als 8.550 Bewerber haben sich anonymisiert beworben.

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Anonymisierte Bewerbungen gut umsetzbar
Bei der Vorstellung des Abschlussberichtes am Dienstag zog ADS-Leiterin Christine Lüders ein positives Fazit: „Unser Pilotprojekt hat gezeigt, dass anonymisierte Bewerbungen den Fokus auf die Qualifikation der Bewerbenden lenken und dabei gut umsetzbar sind.“ Ursprüngliche Befürchtungen aus der Wirtschaft, solche Verfahren der Personalrekrutierung führten zu unnötiger Bürokratie, hätten sich in dem Modellversuch weitgehend als unbegründet erwiesen. Der Ansatz fördere vielmehr die nötige Sensibilität in der betrieblichen Praxis und sorge für ein geschärftes Bewusstsein gegenüber allgemeinen Diskriminierungstendenzen im Berufsalltag.

Alle Bewerbenden hätten innerhalb des Verfahrens die gleiche Chance auf eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch – unabhängig davon, ob sie potenziell von Diskriminierung betroffen sind oder nicht, betonte Lüders. Das zeige die wissenschaftliche Auswertung des Projekts durch das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) und durch die Kooperationsstelle Wissenschaft und Arbeitswelt an der Europa-Universität Viadrina (KOWA) in Frankfurt (Oder). Entscheidend sei dabei die Qualifikation der Bewerbenden gewesen, nicht ihr Aussehen, Geschlecht oder die Herkunft.

Chancen deutlich gestiegen
Im Vergleich mit klassischen Bewerbungsverfahren gibt es darüber hinaus Anzeichen dafür, dass Frauen von anonymisierten Bewerbungsverfahren besonders profitieren könnten, sagte Lüders. Das gelte etwa für jüngere Frauen, die bereits Berufserfahrung haben und zum Beispiel wegen eines möglichen Kinderwunsches bislang schlechtere Chancen hatten. Für Bewerbende mit Migrationshintergrund gilt: Hatten sie zuvor geringere Chancen auf eine Einladung, haben sich diese nach der Einführung anonymisierter Bewerbungsverfahren verbessert.

Auch die Einschätzung vieler Personalverantwortlicher im Pilotprojekt fiel positiv aus. Das Fehlen persönlicher Angaben in den Bewerbungsunterlagen wie Name, Geschlecht, Alter und Familienstand stellte für die Mehrheit der Personalverantwortlichen kein Problem dar, sagte Lüders. Viele Beteiligte hätten positiv angemerkt, dass die Einführung anonymisierter Bewerbungsverfahren eine Diskussion der bisherigen Rekrutierungspraxis in der entsprechenden Organisation angeregt habe.

Positive Rückmeldung von allen Seiten
Eine Umfrage unter Bewerbenden, die ein standardisiertes Bewerbungsformular ausgefüllt haben, ergab darüber hinaus eine deutliche Zustimmung zum Konzept anonymisierter Bewerbungsverfahren. Bei der Frage nach der Präferenz zeigte sich, dass eine Mehrheit das anonymisierte Bewerbungsverfahren bevorzugt. Deutlich wurde auch, dass Bewerbende gut mit dem neuen Verfahren zurechtkommen. 75 Prozent der Befragten gaben an, dass sie für die anonymisierte Bewerbung weniger Zeit benötigten als in herkömmlichen Verfahren oder dass es keinen Unterschied für sie mache, mit welchem Verfahren sie sich bewerben.

Mehrere der beteiligten Partner wollen nach Angaben der Antidiskriminierungsstelle des Bundes auch in Zukunft mit Teil- oder Voll-Anonymisierungen arbeiten. Darüber hinaus planen die Länder Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz weitere Pilotprojekte, auch mehrere Unternehmen und Kommunen haben ihr Interesse an dem Verfahren angemeldet.

Lösung bekannt – Umsetzung keine
Lüders: „Anonymisierung wirkt. Sie stellt Chancengleichheit her und macht Bewerbungsverfahren fairer. Und: Weitere Unternehmen und Personaler beginnen jetzt, ihren bisherigen, traditionellen Ansatz zu überdenken. Das ist ein gutes Signal für eine neue Bewerbungskultur in Deutschland“.

Ob staatliche Stellen ebenfalls umdenken werden, darf bezweifelt werden. Bisher begnügen sich Politiker auf Integrationsgipfeln eher mit schwammigen Forderungen nach Chancengleichheit. So jedenfalls die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), und Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem zweitägigen Jugendintegrationsgipfel am Montag und Dienstag. Böhmer forderte ein Umdenken im Zusammenhang mit einer sogenannten „Willkommenskultur„. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte die Teilnehmer auf, auch unbequeme Fragen anzusprechen. „Zu Integration gehört Toleranz, Offenheit und auch ein kleines bisschen Mut, auszusprechen, was einen bewegt.“

Volkswirtschaftler Schaden ist groß
Dabei ist das Unbequeme längst bekannt – Diskriminierung aufgrund des Namens, die Lösung ebenfalls – anonyme Bewerbungsverfahren. Was fehlt, ist der Mut – aufseiten der Politiker, anonyme Bewerbungsverfahren zumindest in staatlichen Behörden einzuführen. Ob man sich das leisten kann, bestreitet IZA-Direktor Klaus F. Zimmermann. Durch teils verdeckte, teils offene Benachteiligungen wichtiger gesellschaftlicher Gruppen würden wertvolle Potenziale verschenkt. „Insbesondere die Ungleichbehandlung von Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und älteren Arbeitnehmern verursacht große volkswirtschaftliche Schäden. Diese Ressourcenvernichtung können wir uns künftig, gerade auch im Blick auf den wachsenden Fachkräftemangel, nicht mehr leisten – von den ethischen und gesellschaftspolitischen Aspekten fehlender Chancengleichheit einmal ganz abgesehen“, erklärte Zimmermann.

Auch für die Grünen-Politiker Volker Beck und Monika Lazar ist es Zeit zum Handeln: „Wenn der Abschlussbericht der Antidiskriminierungsstelle wirklich so positiv ausfällt, sollten grundsätzlich sämtliche Stellenausschreibungen des Bundes umgehend auf das anonymisierte Bewerbungsverfahren umgestellt werden. Denn warum sollte die Bundesregierung der Privatwirtschaft dieses Verfahren empfehlen, sich aber selber nicht daran halten?“ (hs)
Leitartikel Politik

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