Frage:

Ja, wo lebt denn der Herr Gauck?

Manche Worte werden überhört, manche nicht wahrgenommen. Manchmal werden sie bewusst überhört. Und manchmal liegt es an der Perspektive, dass das Gesagte nicht verstanden wird. Manches Wort erscheint harmlos, wird aber von manchen als beschämend empfunden.

Von Freitag, 23.03.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 28.03.2012, 8:10 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„… Menschen, die bei uns wohnen“, das ist solch ein Bespiel. Millionen Menschen konnten diesen Satz am vergangenen Sonntag hören. Bei den meisten ging es in das eine Ohr rein und aus dem anderem wieder raus. Aber eben nicht bei allen. Wie bei mir. Ich war erschrocken. Gut gelaunt sitzt Joachim Gauck, unser neuer Bundespräsident, am Sonntagabend im ARD-Fernsehstudio und antwortet auf Fragen von Ulrich Deppendorf und Thomas Baumann. Es geht um dies und das, um die Occupy-Bewegung und darum, wie sich Gauck dazu geäußert hat. Und dann geht es darum, wie der „protestantische Ex-Pfarrer“ zu Ex-Bundespräsident Wulffs Aussage steht, dass der Islam auch zu Deutschland gehöre. Ich höre genau hin.

Anzunehmen, dass die Fragen zuvor abgesprochen worden sind. So ist das Prozedere doch oft bei Interviews mit Prominenten und Politikern. Gauck überlegt nicht lange: „Wieder bin ich in der Versuchung, ein Stück meiner Freitagsrede hier vorab Preis zu geben“, erklärt der neue Bundespräsident, um dann auszuführen, er werde „nicht Christian Wulffs Worte benutzen, sondern die von Joachim Gauck, meine Worte.“ Der neue Bundespräsident sagt Folgendes: „Gehen Sie mal davon aus, dass mir die Tendenz am Herzen liegt. Ich habe vor kurzem die Möglichkeit gehabt, auf Einladung der türkischen Botschaft die Familien zu treffen, die mit und zusammen getrauert haben wegen der unsäglichen Morde dieser Banditen… es ist eigentlich sehr schnell eine Nähe entstanden zwischen dieser Personengruppe und mir…und zwar deshalb, weil hier ein Herz schlägt… weil ich das nicht ab kann, dass Menschen, die bei uns wohnen und die wir brauchen, deren Vielfalt wir schätzen, dass die sich so Vorkommen, als müssten sie sich immer entschuldigen, wenn sie bei uns sind… ja wo leben wir denn? Das kann so ich nicht wollen und deshalb ist nicht zu erwarten, dass hier ein Richtungswechsel erfolgt.“

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Ich sitze vor dem Fernseher, folge dem Interview, bin fassungslos und murmele vor mich hin: „Na, vielen Dank auch, Herr Gauck, dass wir uns nicht dafür entschuldigen müssen, in diesem Land zu wohnen!“ Was heißt denn „die Tendenz liegt mir am Herzen?“ Und wie kommt er dazu, die mordenden Neonazis Banditen zu nennen? Mein Mann versteht meinen Ärger nicht, obwohl er mich gut kennt und weiß, dass ich nicht zu den empfindlichen und sich permanent unerwünscht fühlenden Migranten gehöre. Wahrscheinlich verstehen auch Sie es nicht. Kaum jemand aus meinem deutschen Freundes- und Bekanntenkreis versteht meinen Ärger.

Hätten all meine Freunde aus der muslimischen Community mir nicht versichert, dass die Gauck´schen Worte auch bei Ihnen Kopfschütteln verursacht haben, müsste ich an meinem Gespür zweifeln. Ich bin, weiß ich also inzwischen, nicht allein mit meiner Mutmaßung, dass der protestantische Ex-Pfarrer offensichtlich etwas nicht richtig verstanden hat; ich muss mir also nicht ernsthafte Sorgen um mein Urteilsvermögen machen.

Es ist nur einfach so, dass nicht alle in diesem Land das gleiche hören, auch wenn sie dem selben Menschen zuhören. Und so hat auch der größte Teil der Zuschauer und Zuhörer sich nichts dabei gedacht, als Gauck von Muslimen als Menschen sprach, „die bei uns wohnen“. Die, die Gauck gemeint hat, hingegen haben sehr wohl die rhetorische Trennung zwischen „Wir“ und „Ihr“ vernommen.

Dieser Satz wird übrigens in Medienberichten zitiert. Die Kollegen denken sich nichts dabei, so wie sie sich nichts dabei dachten, als Sie im Zusammenhang mit den Morden an türkischstämmigen Geschäftsleuten von „Döner-Morden“ sprachen und schrieben. Erst als Migrantenorganisationen gegen diese Wortwahl protestierten, wurden die Medienmacher gewahr, welch Geistes Kind dieser Begriff ist.

Vielleicht bin ich, vielleicht sind wir Muslime inzwischen zu empfindlich. Aber wir haben auch Grund dazu: Die Hälfte der Herkunftsdeutschen ist uns gegenüber skeptisch eingestellt. Nicht zuletzt die Morde der Zwickauer Neonazis (Banditen, um Gaucks Formulierung zu verwenden) haben an den Tag gebracht, wie weit sogar manche zu gehen bereit sind.

Mag sein, dass der neue Bundespräsident einfach nur unbedacht gesprochen hat. Gerade deswegen ist es angebracht, ihn auf etwas Entscheidendes aufmerksam zu machen: „Lieber Herr Gauck, wir sind nicht Menschen, die bei EUCH wohnen, wir sind Teil dieses Landes! Und es waren nicht Banditen, sondern Mörder am Werk. Ich bin gespannt auf Ihre Rede heute im Bundestag.“ Leitartikel Meinung

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  1. Zensus sagt:

    Die Unterscheidung zwischen „wir“ und „ihr“ ist doch objektiv richtig – warum also die Aufregung?
    So denken die Muslime und so denkt die deutsche Bevölkerung in diesem Land.
    Was also ist daran verwerflich?

  2. Karakta Kid sagt:

    1. Frau Topcu, ich verstehe Sie vollkommen. Sie sind nicht alleine!

    2. @ LUTHEROS : „WIe bewerten Sie Menschen, die permanent sagen: ich bin Türke, ich spreche türkisch, ich hab eine türkische Geschichte, ich esse türkisch, ich bete in eine andere Himmelsrichtung als du, ich jubele einer anderen fussballmannschaft zu …. irgendwann wird deutlich, dass jene Menschen NUR das trennende kommunizieren. Wer überwiegend so kommuniziert, sagt: ich bin kein Teil vom Wir.“

    >> Verzeihen Sie vielmals, dass wir eine andere Kultur haben, in eine andere Himmelsrichtung beten, eine zweite Sprache sprechen, nicht germanisch sind.
    Die Mehrzahl der Türken haben es satt Gesinnungstests unterzogen zu werden, wie weit man „Deutsch“ ist. Integration wird nur noch von Türken erwartet. Wer integriert z.B. die ganzen Rechtsextremen Deutschen in die BRD? Wer gegen das Grundgesetz arbeitet, sollte doch ausgewiesen werden, oder? Mein Vorschlag: Nazis nach Mallroca ausweisen.

  3. Lutheros sagt:

    @Zeririn:
    Wer ist denn „das Land“ und was machen die Menschen zum einem „wir“? Es muss verbindendes geben, sonst gibt es kein „unser“ und „wir“. Allein die Eigenschaft Mensch kann es nicht sein, sonst wären alle Menschen in einem Land zu Hause.

    Ein Land ist die Summe der gemeinsamen Werte, sie drücken sich in Gesetzen, in üblichen Verhaltensverweisen (auch wenn diese immer indiviueller werden) und Historie aus. Das „Wir“ bedeutet auch, die Geschichte als die gemeinsame Geschichte zu empfinden und mindestens einen Teil der Historischen Entwicklungen des Landes weiterführen zu wollen: Kulturell, gesellschaftlich, rechtlich.

    Möchten Sie Teil dieses Landes sein, oder in Wirklichkeit die Geschichte eines anderen Landes nur an einem anderen Platz weiterleben? Dagegen ist nichts einzuwenden, nur sind Sie dann eben nicht ein Teil von diesem „Wir“. Und das sollte man aber auch man ehrlicherweise auch mal von beiden Seiten so anerkennen, dass nicht jeder der räumlich anwesend ist, dazu gehört.

  4. Sugus sagt:

    @ Zerrin Konyalioglu
    Es gibt einen großen Unterschied zwischen „wem das Land gehört“ und „nicht dazugehören“. Bevor Sie mir den Vorwurf der Ausgrenzung machen, müssen sie schon genauer differenzieren: also, soll den Ausländern Deutschland gehören oder sollen sie dazugehören?

  5. BiKer sagt:

    @ jens

    wohl noch nie mittagstalkshows gesehen :)

  6. Zerrin Konyalioglu sagt:

    @Sugus, ich schätze Ihre Offenheit, teile jedoch nicht Ihre Meinung. Schauen Sie, ich bin in Istanbul geboren, der eine Großvater stammt aus Dubai, der andere aus Albanien, der 3. aus Konya, der, der 4. aus Bitlis. Mein Mann ist Deutscher unsere Kinder auf katholischen Schulen. Würde ich mich mich auf eine Kultur beschränken, würde ich verarmen, ich haber liebe meinen Kulturmix, warum sollte ich auf diesen Reichtum verzichten, nur um Ihnen zu gefallen?
    @Lutheros, seien Sie froh, dass wir nicht alle gleich denken, fühlen und uns gleich verhalten, wir würden in elender Langenweile ersticken..

  7. Bachfischer sagt:

    „der eine Großvater stammt aus Dubai, der andere aus Albanien, der 3. aus Konya, der, der 4. aus Bitlis. “

    Interessant, 4 Großväter? Wenn das mal nicht richtig bunt ist! Zerrin, das Problem ist doch folgendes: niemand hat was dagegen, wenn sie ihren Kulturmix leben. Sie sind sicherlich perfekt integriert (was auch immer das bedeuten mag). Aber Sie müssen auch damit leben, von einigen, die nicht diesen Mix leben, sondern nur EINE KULTUR, nicht als vollwertiges Mitglied IHRER Gruppe anerkannt zu werden. Oder anders gesagt, Sie dürfen sich im Grunde nicht beschweren, wenn Sie unter „reinrassigen“ Deutschen, bzw. denen, die nur die deutsche Kultur leben, immer den Status des Exoten behalten. Mal mehr oder weniger sympathisch, humorvoll oder eben diskriminierend. Simples Beispiel: wenn ich BayernMünchen-Fan UND zugleich Schalke04-Fan bin und dies auch so lebe, werde ich doch höchstwahrscheinlich von keinem „richtigen“ Fan einer der Mannschaften als vollwertig anerkannt, ist es nicht so? Zumindest nicht von der Masse, kluge Ausnahmen wird es immer geben.

    Ich sehe sowieso kein Problem mit dieser Integration. Eigentlich läuft doch alles gut. Das einzige was mich stört: wer anders sein will, muss auch damit klarkommen, dass er (von der Masse) anders behandelt wird. Sicherlich wird sich unsere Gesellschaft dahingehend noch wandeln, aber zur Zeit ist es so: wenn du sagst, du bist Türke und Moslem und deine Heimat ist die Türkei, dann bist du Türke und kein Deutscher, auch wenn du hier lebst. Warten wir 50 Jahre ab, vielleicht ist es dann ungewöhnlich, wenn man keine Türken oder sonstigen Migranten in der Verwandschaft hat als deutscher Staatsbürger.

  8. Lutheros sagt:

    @Karakta Kid:
    Niemand hier ist dagegen, dass Sie Ihre Kultur hier leben dürfen. Sie sind frei und können so leben, sprechen, essen, beten wie immer Sie mögen, das spricht Ihnen niemand ab.

    Aber die Frage des Artikels war eine andere: Wohnen Sie bei „uns“ oder sind Sie ein Teil vom uns? Sie können jederzeit gern hier wohnen. Aber wer den Anspruch erhebt, dazugehören zu wollen, muss mit denjenigen, zu denen er gehören möchte, die Zugehörigkeitselemente teilen. Wenn die Kultur und die Geschichte dieses Landes nicht Ihre sind, sind SIe kein Teil vom „uns“. Dann sind Sie eben jemand der „bei uns wohnt“.
    Was ist so schlimm daran?

  9. Zerrin Konyalioglu sagt:

    @Bachfischer, das ist eigentlich ganz einfach, mütterlicherseits zwei ethnisch verschiedene Großväter und väterlicherseits das gleiche, für Sie vll exotisch, für viele Türken normal, denn die Osmanen waren nun mal ein multiethnischer Staat. Das Problem ist simpel, hier herrscht meist das . entweder-oder-Prinzip, entweder bist du dies oder das, du kannst nicht beides sein und schon gar nicht haben. Wie wäre es mit sowohl-als-auch? Im Meer leben Säugetiere, Korallen, Plakton, u.v.m. sie sind nicht alle gleich, aber leben tun sie gemeinsam. Fast hätte ich es vergessen, erwarten Sie von Schweden und Franzosen auch, dass sie sich entscheiden oder dürfen die ruhig französisch und schwedisch bleiben? Im übrigen, ich kann Fußball nicht ausstehen…

  10. Sugus sagt:

    @ Zerrin Konyalioglu
    Wollen Sie Bachfischer nicht verstehen? Niemand kann 4 Großväter haben, sondern immer nur 2. Meinen Sie Urgroßväter? Dann könnte es passen.