Interview mit Bülent Ucar

Junge Muslime in Deutschland

Was treibt junge Muslime an und sind die großen islamischen Organisationen überhaupt nocht in der Lage, sie anzusprechen? Im Gespräch mit dem MiGAZIN erzählt Prof. Bülent Uçar über seine Erfahrungen und die Rolle der Religionsgemeinschaften.

Von Birol Mizanoğlu Mittwoch, 14.03.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 16.03.2012, 4:08 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

MiGAZIN: Wie sehen Sie das Leben der jungen Muslime in Deutschland?

Uçar: Eigentlich durchaus positiv, es gibt in diesem Land die Religionsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte. Also kann sich jeder frei entfalten und entscheiden, viel besser als in weiten Teilen dieser Welt.

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Gibt es denn gar keine Probleme?

Uçar: Natürlich gibt es auch Probleme. Junge Muslime haben es in Deutschland aufgrund der Säkularisierung und Minderheitenrolle auch sehr schwer, besonders dann, wenn sie ihre Religion praktizieren wollen, ohne in den religiösen Extremismus abzudriften. Von den einen werden sie dann belächelt, wie könne man noch an die Märchen aus dem Mittelalter glauben, heißt es, von den anderen als weltfremd diffamiert. Mit ähnlichen Vorwürfen haben auch christliche Jugendliche zu kämpfen.

Bülent Uçar, geb. am 24. Januar 1977 in Oberhausen, ist ein deutsch-türkischer Islamwissenschaftler und Religionspädagoge. Er studierte von 1996 bis 2002 Rechtswissenschaften an der Universität Bochum; von 1999 bis 2002 Islamwissenschaften, Politische Wissenschaft und Privatrecht mit Rechtsvergleich an der Universität Bonn. Darauf folgte von 2002 bis 2005 ein Promotionsstudium an der Universität Bonn im Fach Islamwissenschaften. Gleichzeitig war er sowohl als Islam-Lehrer in deutscher Sprache in Bonn als auch als Lehrer für Islamkunde und Gesellschaftswissenschaften in Duisburg tätig. Von 2005 bis 2006 war er als Pädagogischer Mitarbeiter sowohl am Landesinstitut für Schule als auch in der Qualitätsagentur in Soest für den Bereich Religionslehre – insbesondere Islamkunde – zuständig. Seit Juni 2008 ist er ordentlicher Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück und gilt als einer der gefragtesten Korangelehrten in Deutschland.

Mit welchen Folgen?

Uçar: Dies kann durchaus zu bestimmten Diskriminierungserfahrungen führen, woraus man wiederum neue Abgrenzungsmechanismen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft entwickelt.

Wie haben Sie das als junger Muslim in Deutschland selbst erlebt?

Uçar: Ich bin in einer Ditib-Gemeinde sozialisiert, habe dort gelernt, später auch selbst unterrichtet. Ich war schon relativ jung als Imam tätig, habe die Freitagspredigten gehalten, die Jugendarbeit geleitet und sogar die Festgebete verrichtet. Dafür habe ich auch Zertifikate erhalten.

Wann war das?

Uçar: Bereits als Schüler, mit 15-16 hat es angefangen.

Und gab es keinen festen Imam in der Gemeinde?

Uçar: Das Ganze fand entweder in der Betreuung des Imam statt oder in den Sommerferien. Der Imam war in dieser Zeit häufig mit seiner Familie im Urlaub.

Ditib hat heute enorme Probleme, junge Menschen anzusprechen? War das früher anders?

Uçar: Das Problem gab es bereits damals, weshalb viele meiner Generation auch Kontakte und Erfahrungen bei anderen Gemeinden und Gruppierungen hatten.

Und Sie?

Uçar: Ich habe auch enge Beziehungen und Erfahrungen zu sufischen Gruppierungen gehabt, habe die Nurculuk-Bewegung kennengelernt, ebenso hatte ich viele Bekannte in der sog. Gülen-Bewegung und bei ATIB. Als Kind habe ich auch die VIKZ erlebt. Später an der Universität, wo ich häufig auch die Freitagsgebete geleitet habe, habe ich in Bochum, Duisburg und Bonn auch studentische, internationale Gruppierungen und Milli-Görüş kennengelernt.

Milli-Görüş wird vom Verfassungsschutz beobachtet…

Uçar: Ja sicherlich. Man muss bei Milli Görüş sorgfältig differenzieren. In Österreich stellt Milli Görüş den Vorsitzenden der staatlich anerkannten islamischen Religionsgemeinschaft, in den Niederlanden sind sie ein wichtiger Partner in der Integrations- und Islampolitik, in der Türkei stellen sie teilweise die Regierung.

Sehen Sie ihre Beziehung nachträglich trotzdem nicht problematisch?

Uçar: Ich habe es nie geleugnet, es ist eine Entwicklungsstufe in meinem Leben. Während meines Studiums habe ich eine Zeit lang gute Kontakte zur Studentenorganisation von Milli Görüş gehabt. Damals hatten sie mit kleineren Beträgen Studierende – u.a. auch mich – für eine bestimmte Zeit unterstützt.

Dennoch, Sie sind sehr kritisch gegenüber Milli Görüş in Ihrer Dissertationsschrift.

Uçar: Lassen Sie mich dazu Folgendes sagen: Junge Menschen sind relativ häufig auf der Suche nach Authentizität und Aktivität und da lernt man verschiedene islamische Gruppen kennen. Das ist in den christlichen Kirchen in Amerika heute nicht viel anders. Die weitgehende Statik in der Kirchenzugehörigkeit mit Ausnahme der Austritte ist für Europa typisch. Vor mehr als zehn Jahren gab es innerhalb der Milli Görüş zudem eine Teilung, wenn sie wollen ein Schisma (lächelt).

„Die großen islamischen Organisationen reagieren zu statisch auf den Wandel an der Basis, aber auch dies ist letztlich ein Entwicklungsprozess.“

Meinen Sie die AKP?

Uçar: Ja, die AKP wurde gegründet, sie bildete den progressiven Arm der Bewegung. Genau in dieser Zeit habe ich meine Dissertation geschrieben und mich auch mit der damaligen Milli Görüş-Bewegung sehr kritisch auseinandergesetzt. Sie war für mich zu stark politisiert, Türkei- und parteiorientiert. Dazu kommt: Für mich war und ist Spiritualität immer von entscheidender Bedeutung in der Religion, weshalb ich mich immer auch zu bestimmten sufischen oder sufisch geprägten Gruppierungen innerlich hingezogen gefühlt habe. Die einseitige Politisierung der Religion halte ich ebenso für problematisch, wie ihre trockene Rationalisierung, beides Phänomene der Moderne und Reaktionen auf den Westen.

Hat Milli Görüş immer noch dieses Aktivierungspotential unter den Jugendlichen?

Uçar: Sie ist immer noch sehr aktiv, aber hinzugekommen sind andere Gruppen, etwa die Salafisten, die viel klarer in ihren Botschaften sind, weshalb diese meines Erachtens viele Jugendliche besser mobilisieren. Milli Görüş ist jetzt für viele im Auftreten und in der Struktur konventioneller geworden.

Viele junge Menschen verlassen die großen Verbände, weil sie kein Veränderungsprozess beobachten…

Uçar: Sicherlich, aber auch hier muss gründlich analysiert werden. Säkularisierungsprozesse sind genauso eine feststellbare Tendenz, wie auch individualisierte Zugänge zur Religion. Sie haben aber Recht. Die großen Organisationen reagieren zu statisch auf den Wandel an der Basis, aber auch dies ist letztlich ein Entwicklungsprozess.

Sie sagten, dass sie auch Kontakte zu Sufis und den Nurculuk-Gruppierungen gehabt haben. Was war hier auffallend?

Uçar: Diese Gruppen waren damals sehr vorsichtig und zurückhaltend in ihrem öffentlichen Auftreten. Für junge Menschen also relativ unattraktiv, aber sie verwalteten die Religion nicht, sondern hatten auch eigene spirituelle Botschaften. Diese persönliche Erfahrung ist für mein Glaubensverständnis zwar suboptimal, aber zugleich sehr prägend gewesen. Sie können das natürlich auch als Erbauungsliteratur diskreditieren. Ich habe in den vielen Gesprächen in diesem Zusammenhang die traditionelle Volksfrömmigkeit auf einer anderen Ebene kennengelernt. Aber mein kritischer, fragender Geist und altes Problem mit starren, hierarchischen Strukturen hat eine dauernde Anbindung ebenfalls verhindert.

Haben sie sich dann auch von Ditib getrennt?

Uçar: Nein, nie. Ich war meiner Heimatgemeinde immer treu, bis heute bin ich Mitglied der Gemeinde. Da bin ich ein sehr treuer Mensch, (überlegt) weniger aus ideologischen Gründen, vielleicht, weil ich auch viele Kindheitserfahrungen damit verbinde.

Was sind ihre ersten Erinnerungen daran?

Uçar: (Überlegt) Wie wir als Grundschulkinder mit dem Fahrrad Anfang der 1980er Jahre in die Moschee gefahren sind, ist meine älteste Erfahrung denke ich. Aktuell Interview

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