Scharia in Deutschland 1/2

Echtes Problem oder pure Provokation?

Immer wieder ist in den Medien plakativ von der Anwendung der Scharia durch deutsche Gerichte die Rede. Diese Vorstellung sorgt regelmäßig für Verwirrung und Empörung. Der Versuch einer Begriffs-Klärung. – Teil 1/2

Von Katharina Pfannkuch Donnerstag, 09.02.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 15.02.2012, 6:45 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

„Scharia hält Einzug in deutsche Gerichte“, titelte WELT online Anfang Februar – der plakativen Überschrift folgte ein fast überraschend differenzierter Bericht, in dem dargelegt wurde, wann es im deutschen Rechtswesen zur Anwendung von Bestimmungen kommen kann, die dem islamischen Recht zu entnehmen sind. Bereits im Oktober 2010 war auf SPIEGEL online ein Artikel mit der ebenso irreführenden Überschrift „Deutsche Gerichte wenden Scharia an“ zu lesen.

Irreführend sind die genannten Überschriften deshalb, weil sie suggerieren, dass es sich hier um eine neue Entwicklung, ein zuvor nicht da gewesenes Phänomen handeln würde. Vor dem Hintergrund des üblichen Duktus eines großen Teils der deutschen Medien waren in beiden Fällen die empörten und teilweise schockierten Reaktionen jener Leser vorprogrammiert, die sich in ihrer Annahme bestätigt fühlten, Deutschland sei von einer „schleichenden Islamisierung“ bedroht. Nicht jeder Leser hat die Zeit und Geduld, derartige Artikel gründlich und vollständig zu lesen – und so reicht manchmal eine Überschrift aus, um eine Diskussion ins Rollen zu bringen, die entscheidender Grundlagen oft genug entbehrt.

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Denn wie in beiden Artikeln zu Recht erwähnt wird, handelt es sich bei der vermeintlichen Anwendung der Scharia in deutschen Gerichtssälen um nichts anderes als um die seit Jahrzehnten in der deutschen Rechtsordnung verankerte Anwendung des Internationalen Privatrechts, kurz IPR, das – wie der Name schon sagt – ausschließlich privat-, also zivilrechtliche Fragen betrifft. Strafrechtliche Fälle können nicht nach IPR behandelt werden. Ob dieses IPR angewendet wird, ist davon abhängig, ob ein so genannter Auslandbezug besteht, also davon, ob eine der beteiligten Parteien eine ausländische Staatsbürgerschaft hat oder ob sie sich dauerhaft im Ausland aufhält. Auch die Vornahme einer Handlung im Ausland kann diesen Auslandsbezug begründen. So muss etwa das französische Recht berücksichtigt werden, wenn ein französischer Staatsbürger in Deutschland heiraten möchte – erfüllt er alle Voraussetzungen, die er auch in seinem Heimatland erfüllen müsste, um heiraten zu dürfen? Wurde eine mögliche vorherige Scheidung auch vom Heimatland anerkannt? Haben die Verlobten das von ihrem Heimatrecht erforderliche Heiratsalter? Diese Voraussetzungen des so genannten Heimatrechts sind auch bei einer Eheschließung in Deutschland zu berücksichtigen – solange sie nicht dem deutschen ordre public widersprechen.

Die Einhaltung des ordre public, der in Artikel 6 des EGBGB geregelt ist, besagt die Einhaltung inländischer Wertvorstellungen; die Bestimmungen des ausländischen Rechts müssen also den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts und den Grundrechten entsprechen. Dieser Vorbehalt besteht bei allen zivilrechtlichen Fragen, die im Rahmen des IPR in Deutschland entschieden werden sollen – ob eine ausländische Norm dem ordre public entspricht oder nicht, entscheidet der zuständige Richter. Die beteiligten Parteien können nicht selbst bestimmen, nach welchem Recht ihre zivilrechtliche Angelegenheit behandelt wird, dies geht nur im Rahmen der Vertragsfreiheit bei schuldrechtlichen Verträgen.

Was hat das alles nun mit der Scharia zu tun, diesem mittlerweile zum Reizwort avancierten Begriff, der die Gemüter immer wieder so erregt? Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung von der Scharia als ein kodifizierter Gesetzestext, in dem bei Bedarf nachgeschlagen wird, handelt es sich hier um ein Fallrecht, ähnlich wie dem anglo-amerikanischen case law. Der Begriff Scharia umfasst jedoch weit mehr als nur rechtliche Vorgaben: So sind dem Koran, der Sunna, dem Konsens der Rechtsgelehrten, dem Analogieschluss und anderen Quellen Richtlinien zu entnehmen, die alle Lebensbereiche des Menschen betreffen, sowohl hinsichtlich seines Verhältnisses zu Gott (arabisch: „ibadat“) als auch zu seinen Mitmenschen („mu’amalat“). Die Scharia kann daher eher als Normensystem verstanden werden, das rechtliche und soziale Bereiche betrifft und das eine Art Leitfaden für das alltägliche Leben des Einzelnen sein kann.

Einige dieser Richtlinien, die die Scharia beinhaltet, haben Eingang gefunden in die Rechtsprechungen islamisch geprägter Länder. Meist betreffen schariatrechtliche Maßgaben das Familien- und Erbrecht, das Strafrecht ist in der Mehrheit der islamisch geprägten Länder vom französischen Recht beeinflusst – die gern und publikumswirksam zitierten Körperstrafen wie das Abhacken der Hand zur Ahndung von Diebstahl oder die Steinigung zur Bestrafung von Ehebruch sind in einer verschwindend kleinen Anzahl von Ländern überhaupt rechtlich möglich. Da Diebstahls-Delikte in Deutschland unter den Bereich des Strafrechts fallen und Ehebruch kein zu ahndendes Delikt darstellt, seien diejenigen, die nach dem Überfliegen der oben genannten Überschriften die Islamisierung des deutschen Rechts und dessen Ergänzung durch die genannten Strafen befürchten, entwarnt. Denn wie schon oben erwähnt: Das Internationale Privatrecht kann nur bei zivilrechtlichen Fragen zum Tragen kommen. Darüber hinaus stammt die größte Gruppe mit ausländischem Migrationshintergrund in Deutschland aus der Türkei, wo die Scharia als Gesetzesgrundlage schon 1926 abgeschafft wurde – ein Auslandsbezug zur Türkei und der Verweis auf türkisches Recht kann demnach gar nicht zur Anwendung des islamischen Rechts führen.

Wird entschieden, dass ausländisches Recht berücksichtigt werden muss, wird in den jeweiligen nationalen Gesetzen nach entsprechenden Normen gesucht. Liegt ein Fall vor, in dem etwa ägyptisches Familienrecht oder das Erbrecht der Vereinigten Arabischen Emirate zur Anwendung kommen muss, dann ist es möglich, dass schariatrechtliche Bestimmungen zum Tragen kommen, denn in den Rechtsprechungen dieser beiden Länder ist das Familien- und Erbrecht vom islamischen Recht beeinflusst – zumindest, wenn es Muslime betrifft.

Konkret bedeutet das: Will sich ein französischer Staatsbürger, der in Deutschland lebt, hier scheiden lassen, so wird auch französisches Familienrecht berücksichtigt. Hinterlässt ein deutscher Verstorbener eine Immobilie in Spanien, kann spanisches Erbrecht zum Tragen kommen. Ebenso ist bei Erbschaftsfällen in Deutschland das jeweilige Heimatrecht der Beteiligten heranzuziehen. So entschied etwa das Bundessozialgericht in Kassel im Jahr 2000, dass eine in Deutschland lebende Marokkanerin das Erbe ihres verstorbenen Ehemannes mit dessen Zweitfrau zu teilen habe – mit Verweis auf das marokkanische Erbrecht. Bei derartigen Fällen wird immer auf die Einhaltung des ordre public geachtet. Daher wird das Scheidungsverbot, das laut syrischem Recht für Christen gilt, das ägyptischen Kopten ebenfalls die Scheidung versagt und das bis 2011 auch für maltesische Staatsbürger galt, in Deutschland als nicht anwendbar angesehen.

Man kann über die Vereinbarkeit etwa der polygamen Ehe mit den Grundwerten des deutschen Rechts und den Grundwerten geteilter Meinung sein. Man sollte jedoch auch nicht außer Acht lassen, dass es nicht nur islamrechtlich beeinflusste Rechtsprechungen sind, die mit „unseren“ Vorstellungen von Grundwerten schwer vereinbar zu sein scheinen. Und vor allem ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Anwendung des IPR im Zusammenhang mit Staatsangehörigen islamisch geprägter Länder nicht bedeutet, dass deutsche Richter in der neuesten Auflage der Scharia-Gesetzgebung nachschlagen – denn so etwas gibt es schlichtweg nicht.

Ein knapper Beitrag mit einer knackigen Überschrift, die anderes vermuten lässt, liest sich womöglich spannender und leichter. Für das Zusammenleben der Menschen in Deutschland mit all ihren kulturellen und nationalen Hintergründen sind derartige Schlagzeilen und verkürzte Informationen, die vor allem von ihrem plakativen und polarisierenden Charakter leben, jedoch kaum förderlich.

Im zweiten Teil geht es um die Aktivitäten islamischer Schiedsgerichte, die in jüngster Zeit nach dem Vorstoß des rheinland-pfälzischen Justizministers Jochen Hartloff für Diskussionen sorgten. Leitartikel Meinung

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  1. role sagt:

    Vielen Dank für diesen informativen Beitrag zur Versachlichung einer emotionalen Debatte.

  2. dagmar.schatz sagt:

    Ich schließe mich meinem Vorredner an. Ich bezweifle allerdings, daß sich die „Islamkritiker“ diese Drohkulisse wegnehmen lassen.

  3. u. h. sagt:

    Sehr geehrte Frau Pfannkuch!

    Ihren Artikel habe ich gelesen, anschließend den in Welt-online überflogen. Was Sie schreiben, deckt sich genau mit dem, was ich vor knapp 50 Jahren in der Vorlesung über das Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch gehört habe, wo das deutsche IPR kodifiziert ist.

    Was mich an Ihrem Artikel gewundert hat, ist allein, daß Sie, obwohl nach der Beschreibung Ihres Werdegangs und Ihrer Studienrichtungen, einen so guten und juristisch richtigen Artikel geschrieben haben. Ich gratuliere!

    Freundliche Grüße,
    Ihr
    U. H.

  4. M.Ballo sagt:

    Wunderbar, es sind gute Nachrichten das ein Artikel im Migazin, und auch Kommentatoren, sich klar positionieren und zwar gegen Scharia und deren Anwedung in Deutschland. Denn Scharia ist bekanntlich nicht mit den allgemeinen Menschenrechten und Demokratie in Einklang zu bringen und darf daher höchstens in Ausnahmefällen und nur für Ausländer Anwendung finden. Wie von Frau Pfannkuch präzise beschrieben wurde.
    Gut das hier Einigkeit besteht.

  5. Erna Subklew sagt:

    Der vorliegende Artikel hilft sicherlich beim Abbau von Vorurteilen und müsste eine große Verbreitung finden.

  6. hannibal sagt:

    Redaktion: Der zweite Teil wird in Kürze veröffentlicht.

    @ Redaktion

    Wo, bitte bleibt der 2.Teil des Artikels? Oder gibt es in
    diesem Informationen, die dem MIGAZIN unangenehm sind ?

  7. Mirakel sagt:

    „So entschied etwa das Bundessozialgericht in Kassel im Jahr 2000, dass eine in Deutschland lebende Marokkanerin das Erbe ihres verstorbenen Ehemannes mit dessen Zweitfrau zu teilen habe – mit Verweis auf das marokkanische Erbrecht.“

    Ein absoluter Skandal.

    „Man kann über die Vereinbarkeit etwa der polygamen Ehe mit den Grundwerten des deutschen Rechts und den Grundwerten geteilter Meinung sein. Man sollte jedoch auch nicht außer Acht lassen, dass es nicht nur islamrechtlich beeinflusste Rechtsprechungen sind, die mit „unseren“ Vorstellungen von Grundwerten schwer vereinbar zu sein scheinen.“

    Und so beginnt es…

  8. m.d. sagt:

    Erwähnenswert ist die Interpretation des Wortes Scharia von Said Nursi:
    „Scharia, der Weg der Religion, besteht aus 99 % Ethik, Gebet, Jenseits und Tugendhaftigkeit. Nur 1 % ist Rechtsordnung.
    Und dies ist die Sache des Staates.“
    (Quelle: said-nursi.de, sehr anschauliche und empfehlenswerte Seite)

    d.h. der Mensch so handeln sollte, dass die Gesellschaft nicht davon einen Schaden trägt.

    Also, auch das Kantsche kategorische Imperativ ist damit Vergleichbar.

    oder um es mit Goethe noch zu erklären:
    „Welche Regierung die Beste sei? – Die welche vorgibt, sich selber zu regieren.“

    apropos Goethe; ein Buchtipp:
    West – Östlicher Divan;
    ISBN 3423135131

    shalom alaichem

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