Scharfesser und Scharfmacher

Eine indische Würze zur Integrationsdebatte

Ein Inder in Deutschland – gebildet, fleißig und friedlich. Höchstwahrscheinlich Akademiker – Arzt, Programmierer oder Ingenier. Hilft Deutschland, den Fachkräftemangel zu beseitigen. Er ist willkommen. Auch Thilo Sarrazin mag ihn. Oder?

Ein typischer Dialog mit jemandem, dem ich zum ersten Mal begegne:

Er:Woher kommst du ursprünglich?

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Ich:Aus Indien…

Er:Oooh… Indien! Das ist ein wundervolles Land!

Es folgt die geistige Abwesenheit und im Kopf läuft folgender Film:

Ein schmächtiger junger Mann – nennen wir ihn Rajev – kommt fröhlich grinsend und vollkommen entspannt aus einem Hindu-Tempel. Er trägt einen roten Punkt auf der Stirn und ist in wie üblich in starken Farben gekleidet. Nach einem kurzen Frühstück – bestehend aus einem extrascharfen Chicken Tikka Masala und Chai – ruft er mit seinem schwer verständlichen Akzent auf Englisch ein Taxi zu sich. Das Taxi fährt jedoch an ihm vorbei. Rajev lacht und winkt freundlich nach dem Nächsten. Nach zwei Stunden klappt es endlich. Er dankt dem Rind, das neben ihm stehend seine königliche Mahlzeit aus der Hand eines Bettlers genießt. Auf dem Weg in den Bazar programmiert er kurzerhand eine Software für ein großes deutsches Unternehmen. Rajev steigt aus und eine große farbenfrohe, glitzernde und blinkende Menschenmasse steht bereit, um mit ihm zusammen zu tanzen.

Cut.

Nun folgt die übliche Frage…

Er:Wie ist es eigentlich im Hinduismus? Betet ihr da wirklich jedes Tier an?

Ich:Ähhm…! Nee, eigentlich bin ich Muslim, aber zu den Hindus …ääh…

Er:Achsooo…!

Und wieder kommt die geistige Abwesenheit. Ein weiterer Film wird eingelegt:

Ein älterer Mann kommt grimmig und gestresst aus einer Moschee. Er trägt einen dichten langen Bart ein einfarbiges Gewand. Gerade hatte er eine Bombenanleitung zum Frühstück – bestehend aus Zünder und Sprengstoff – für eine perfekt funktionierende Bombenweste mit japanischer Technologie. In arabischer Sprache schreit er eine Kutsche zu sich. Der Kutscher fährt an ihm vorbei. Er gerät in Rage, dankt Allah für die Bombe und drückt den Auslöser. Und wieder steht eine Menschenmasse bereit, um gemeinsam seine Bestattung durchzuführen.

Cut.

Um die Stille zu übertönen…

Ich:Ja, es gibt auch Muslime in Indien…

Er:Die Medien erzählen vieles über euch, aber ich glaube das nicht.

Wenn Menschen in Deutschland von Indien hören, denken sie häufig in Bezug auf die Religion in erster Linie an den Hinduismus. Diese Religion bestimmt mit ihren Traditionen und Riten in der deutschen Öffentlichkeit überwiegend die Vorstellung über dieses Land. Letzten Endes entsteht ein selbstverständliches Bild Indiens, das durch Bollywood in den Westen exportiert wird.

Genauso selbstverständlich ist, dass wenn Menschen in Deutschland von Muslimen hören, sie häufig in Bezug auf ihre Religion in erster Linie an Terrorismus und Gewalt denken. Ein Bild, das über Jahre durch die Handlungen einiger Wahnsinniger geformt und mit medialer Unterstützung durch einen gezielten Stereotypentransport für die Massen aufbereitet wurde.

Wer hat denn noch nicht etwas von den Mogulen gehört? Sie herrschten vom 16. bis ins 19. Jahrhundert über den indischen Subkontinent und verbinden mit ihrem Wirken den Islam unweigerlich mit dem Land der bunten Farben und Gewürze. Heute gehören Indien und der gesamte südasiatische Subkontinent zu den Regionen, in denen die meisten Muslime der Welt leben. Von den 1,21 Milliarden Einwohnern Indiens gehören ca. 135,5 Millionen Menschen dem Islam an. Somit ist Indien nach Indonesien und Pakistan das Land mit der drittgrößten islamischen Gemeinschaft.

In Deutschland lebt hingegen eine relativ geringe Anzahl von Muslimen indischer Herkunft. Von den über 4 Millionen Muslimen in Deutschland stammen nur etwa 12.000 Muslime aus Indien. Den größten Anteil der in Deutschland lebenden Muslime machen bekanntlich Menschen mit einem türkischen Migrationshintergrund aus. Demgemäß prägt auch der schwarzhaarig muslimische Türke das gesellschaftliche Bild eines typischen Migranten. Folglich lautete der erste Spruch, den ich als Inder an meinem ersten Tag in der Hauptschule von einem Mitschüler zu hören bekam: „Scheiß Türke!“, als ich mich gezwungenermaßen neben ihm setzen musste, da alle anderen Plätze belegt waren.

So sind Menschen wie gewöhnlich, die nach Trennung in der Gesellschaft suchen und nicht nach einer harmonischen Verbindung. Sie differenzieren nicht nach Herkunft oder womöglich nach Integrationsfortschritt. Sie werden schlicht von der Angst des Andersaussehenden und Andersdenkenden kontrolliert und missachten dabei, welchen Gewinn eine kulturelle Vielfalt für dieses Land bedeuten kann.

Indische Muslime stammen selbst aus einem Land, das eine immense kulturelle Vielfalt beherbergt. Es ist ein Land, mit weit über 1.600 gesprochenen Sprachen und Dialekten, indem Menschen verschiedenster Konfessionsgruppen überwiegend friedlich miteinander leben. Dieses harmonische Miteinander bekam auch ich bei meinen Aufenthalten in Indien zu beobachten, als man früh morgens für das Gebet aufstand und in der mehrheitliche muslimischen Kleinstadt Qadian (Punjab) neben dem Muezzin-Ruf der Muslime, die Rezitation aus den heiligen Büchern der Hindus und der Sikhs ertönte.

Infolge dieses starken gesellschaftlichen Pluralismus sind indische Muslime durch die Stellung einer Minderheit in einem mehrheitlich hinduistischen Land anders sozialisiert als Muslime aus Ländern, in denen sie selbst die Mehrheit stellen. So sind Inder generell offener, kulturinteressierter und dialogbereiter. Durch das ständige Auseinandersetzen mit Andersgläubigen, das Reflektieren und Nachsinnen über die eigene Überzeugung sind sie häufig frommer und gefestigter im Glauben. Denn mehrfach ist festzustellen, dass Minderheiten von Teilen der dominierenden Gruppe als minderwertig angesehen werden und auch dementsprechend behandelt werden. Dadurch kommt es nicht selten zu Identitätskrisen dieser Menschen, die sich im Konflikt mit ihrem eigenen Bewusstsein auf die Suche nach einem Platz in der Gesellschaft machen.

Die deutsche Gesellschaft geht häufig davon aus, dass Muslime in Deutschland generell bildungsfern seien. Diese Annahme besteht aufgrund der mehrheitlichen Zuwanderung einzelner Gruppen aus ländlich geprägten Regionen weniger entwickelter Herkunftsländer, vor allem aus der Türkei und Südosteuropa.

Der wesentliche Unterschied zwischen indischen Zuwanderern und z.B. den türkischstämmigen Zuwanderern liegt darin, dass ein Großteil der Inder nicht als niedrig qualifizierte Arbeitsmigranten angeworben wurden oder als Flüchtlinge nach Deutschland kamen, sondern meist als Akademiker, um den Fachkräftemangel in Deutschland zu beseitigen.

Nach wie vor ist Deutschland auf Mathematiker, Mediziner, Informatiker und Techniker aus jenen südostasiatischen Ländern angewiesen. Diese Akademiker holen dann in den meisten Fällen ihre Familienmitglieder nach, die in der Regel ein Gewinn für die Bundesrepublik Deutschland sind. Denn typisch für indische Familien ist häufig, dass die Eltern ihre Kinder stets dazu antreiben, einen hohen Bildungsgrad zu erreichen. Auch ist immer klar, dass sie entweder Medizin, Ingenieurwesen oder Jura studieren sollen. Dieser Leistungsdruck ist einer der Hauptgründe für das hohe Bildungsniveau indischer Kinder, der rasche Integrationsfortschritte nach sich zieht. Diese Fortschritte können auch auf die finanzielle Stabilität vieler indischer Muslime zurückgeführt werden, die weitestgehend verstreut leben und sich nicht gezwungener Maßen in Unterschichtenvierteln ansiedeln müssen.

In meinem persönlichen Fall hatte ich das Glück, dass meine Eltern zwar als Mindestmaß an Bildung das Abitur ansetzten, aber mir die Freiheit ließen, meinen Studiengang und meine berufliche Zukunft selbst zu wählen. Meine Eltern sorgten für die erzieherischen Rahmenbedingungen und ließen mich zweisprachig aufwachsen. Sie hielten mich fern von Kriminalität, forderten Respekt gegenüber den Mitschülern und besonders gegenüber den Lehrern.

Mein Vater kam vor etwa 30 Jahren aus finanziellen Gründen nach Deutschland. Nicht als Akademiker, sondern als junger Mann, der seine Familie in Indien zu versorgen hatte. Schnell fand er Arbeit in diversen handwerklichen Berufen und machte sich bald als Textilhändler selbstständig. Daraufhin heiratete er, erwarb nach einiger Zeit eine Eigentumswohnung und zog mit meiner Familie in ein kleines Dorf in Norddeutschland, indem wir bis heute die einzigen Bewohner mit Migrationshintergrund sind. So kam es notwendigerweise zu einer Interaktion mit den deutschen Bewohnern, indem man die Nachbarn vorerst aus der Ferne grüßte, dann zu Feiertagen beschenkte und sie irgendwann in ihren Häusern besuchte.

Angesicht der vielen positiven Beispiele für Integration, die in der Debatte mehrfach in den Hintergrund geraten, hat mich die Integrationsdebatte der letzten Zeit als indischen Muslim genauso getroffen, wie jeden Muslim sonstiger Abstammung.

Sarrazin, der Scharfmacher in dieser Debatte schrieb in seinem umstrittenen Buch, dass im Gegensatz zu Zuwanderern aus Afrika, dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei und den arabischen Ländern Zuwanderer aus dem Fernen Osten oder aus Indien sehr gute Integrationsfortschritte in Deutschland machen. „Sie sind wirtschaftlich leistungsfähig, überwinden Hürden am Arbeitsmarkt, und ihre Kinder zählen in den Schulen zu den Besten“, schreibt Sarrazin. Bis hierhin hätte auch ich sehr gut mit seiner Aussage leben können. Jedoch bleibt es nicht dabei, denn er behauptet, dass die Integrationsunwilligkeit von Migranten auf ihrer Religionszugehörigkeit basiere. Bei keiner anderen Religion, als dem Islam sei „der Übergang zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus so fließend“, gab Sarrazin bekannt. Diese Tatsache behindere die Integration der Muslime in Deutschland. Zudem gehöre zur „kulturell bedingten“ Mentalität der Muslime, dass man am liebsten unter sich bleibe, Frauen jeden Respekt verweigere und seine Lehrer gern als „Hurensöhne“ tituliere.

Muslime sind Sarrazin zufolge Schmarotzer, die „nicht den eigenen wirtschaftlichen Erfolg“ anstreben, sondern „die Absicherung und Alimentierung durch den Sozialstaat“. Für Sarrazin steht ebenso fest, dass nicht das deutsche Schulsystem, sondern nur das genetisch bedingte Intelligenzdefizit muslimischer Kinder für die schlechten Pisa-Ergebnisse sorge. So lasse ihre Mentalität sie häufig an der Schule scheitern. Sein geistreiches Fazit: „Die beste Schule macht ein dummes Kind nicht klug!“

Es sind die einfachen Antworten auf ein vielschichtiges Problem, die ihm beträchtlichen Ruhm und Reichtum verschafften. Für die „schweigenden Masse“ wählt Sarrazin die einfachste aller Jagdarten, indem er sich mit Stöcken und Keulen bewaffnet auf die Suche nach Sündenböcken begibt. Mit seinen Thesen trifft mich Sarrazin als Muslim mit indischen Wurzeln genauso, wie jeden anderen Muslim unabhängig von seiner Herkunft, der sich zum deutschen Grundgesetz bekennt, die deutsche Sprache lernt oder beherrscht, hart für sein Geld arbeitet oder nach Bildung strebt.