Vorgestellt: MiBoCap

Jugendliche Migranten mit Handicap an der Schnittstelle Schule und Arbeit/Beruf

Migration und Berufsorientierung mit Handicap (MiBoCap) – das Projekt stellt Donja Amirpur im Gespräch mit den Initiatoren vor. Dabei geht es um viel mehr! – Teil 4/6 des MiGAZIN Dossiers: Inklusion.

In Köln Holweide befindet sich die größte Gesamtschule der Rheinmetropole. 1 800 Kinder unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft lernen hier gemeinsam. Ein Viertel von ihnen hat einen Migrationshintergrund, zumeist aus der Türkei.

180 Kinder mit besonderem Förderbedarf werden im gemeinsamen Unterricht beschult. Vor drei Jahren startete die Schule gemeinsam mit dem freien Träger Interkultureller Sozialer Service (ISS Netzwerk) das Projekt MiBoCap, Migration und Berufsorientierung mit Handicap.

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Donja Amirpur sprach mit Annette Kellinghaus-Klingenberg und dem ISS-Projektbegleiter David Gentner.

Donja Amirpur: Wie kamen Sie auf die Idee, das Projekt ins Leben zu rufen?

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Kellinghaus-Klingenberg: Wir hatten Probleme, bei unserer Arbeit Migrantenfamilien zu erreichen. Damals machte Ibrahim Turhan nach seinem sozialpädagogischen Studium das Anerkennungsjahr an unserer Schule. Wir machten uns dann gemeinsam auf den Weg, rollten die alten Fälle auf und landeten sofort einen Volltreffer: Die Eltern einer junge Dame haben allen verheimlicht, dass ihre Tochter eine Lernbehinderung hat. Sie erzählten, ihr Kind ginge auf die Gesamtschule, ohne zu erwähnen, dass es ein Förderkind ist. Für uns war es daher schwierig, individuelle Perspektiven für sie zu erarbeiten, schließlich durfte niemand von der Lernbehinderung wissen. Alle zusätzlichen Angebote waren für die Eltern nicht diskutabel. Erst durch Ibrahim Turhan, der heute an der Schule als Sozialpädagoge arbeitet, durch die gemeinsame Sprache als Basis, fassten sie Vertrauen. Mittlerweile macht die junge Dame eine reduzierte Ausbildung als Verkaufshelferin.

Was glauben Sie sind die Gründe für die Geheimhaltung der Behinderung des Kindes?

Kellinghaus-Klingenberg: Es ist immer ganz unterschiedlich. Bei dieser Familie, so erzählten sie uns später, wollten sie die Heiratschancen für die Tochter nicht schmälern. Zum anderen hatten sie auch nicht das Vertrauen in uns und unsere Arbeit. Erst durch Herrn Turhan gelang dies.

Wie funktioniert die Betreuung durch MiBoCap?

Kellinghaus-Klingenberg: Die Berufsorientierung fängt im 8. Jahrgang an. Bei unseren Erstgesprächen arbeiten wir nach einem festen Methodenkatalog. Bestimmte Fragen werden abgeklärt. Wo gehst du zur Schule? Wann bist du geboren? Deinen Namen? Welche Behinderung hast du? Hast du einen Behindertenausweis? Was machen die Eltern von Beruf? Wir möchten den jungen Mann, die junge Dame kennenlernen und außerdem feststellen, was er oder sie eigentlich weiß. Beim Arbeitgeber muss man schließlich auch seine Behinderung erklären können. Dann machen wir weiter mit dem Berufe-ABC. Die Schüler sollen überlegen, welche Berufe sie eigentlich kennen, denn viele Kinder kennen einfach nicht genügend. Wenn man gar nicht weiß, was man tun kann, keine Wahlmöglichkeiten hat, dann wissen wir, dass wir da noch ganz viel Input geben sollten.

Was ist, wenn die Schülerinnen und Schüler keine Vorstellung davon haben, was sie später machen möchten?

„Es fehlt auch die Selbstverständlichkeit und das Selbstvertrauen, als Mitglied der Gesellschaft staatliche Hilfeleistungen einzufordern. Einige Familien haben uns von ihrer Sorge berichtet, mit der Inanspruchnahme staatlicher Leistungen benachteiligt zu werden. Einige Familien haben auch schlechte Erfahrungen gemacht, Diskriminierungen erlebt und sind so stark verunsichert.“

Kellinghaus-Klingenberg: Sollten die Schüler gar keine Ideen zu einem Praktikum haben, machen wir ein Fähigkeitsprofil. In Form von einer MindMap versuchen wir dann festzustellen, was das Kind gerne macht: Ich mache gerne Haare, ich arbeite gerne im Garten, ich gehe gerne zur Schule oder koche und backe gerne. Schüler, die das nicht können, z. B. autistische Schüler, die nicht sprechen oder Schüler mit geistiger Behinderung, bei ihnen müssen wir ein bisschen nachhelfen. Wir hatten zum Beispiel einen autistischen Schüler, der außer der Schauspielerei keine Ideen hatte. Wir arbeiten dann mit so genannten Fähigkeitskärtchen, legen sie dem Schüler vor und schauen, ob er damit etwas anfangen kann. Wir hatten einen jungen Mann, der putzte zu Hause leidenschaftlich gerne die Fenster. Der hat ein Praktikum in einer Gebäudereinigungsfirma gemacht.

Wenn der oder die Schülerin eine eigene Idee hat, dann soll er oder sie es zunächst einmal selbst versuchen, einen Vorstellungstermin zu vereinbaren. Sobald jemand Unterstützung braucht, sind wir da. Wir möchten nicht, dass das die Eltern tun, weil die Kinder selbstständiger werden sollen. Dazu gehört auch ein Fahrtraining zum Betrieb: Sie sollen lernen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeitsstelle zu kommen. Durch eine Kooperation mit der Lebenshilfe haben wir die Möglichkeit, Praktikassistenzen einzusetzen. Das heißt, wenn wir Kinder haben mit autistischen Zügen, einer Körperbehinderung, wo auch Ängste da sind vor dem Praktikum, da können wir dann eine Assistenz einsetzen.

Im Nationalen Integrationsplan wurde die interkulturelle Öffnung der Behindertenhilfe ganz explizit gefordert, weil viel zu wenig MigrantInnen die Angebote nutzen. Was glauben Sie, woran das liegt?

Kellinghaus-Klingenberg: Ich denke, dass zum einen sicherlich die mangelnden Kenntnisse über das Schulsystem und das Behindertenhilfesystem sowie die Sprachbarrieren eine Rolle spielen. Wir hatten zum Beispiel einen autistischen Jungen mit Migrationshintergrund, bei dem die Familie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass ein Praktikum für den Jungen möglich wäre. Der junge Mann ist zu hundert Prozent schwerbehindert, hat aber keinen Behindertenausweis. Schulbegleitung, Pflegegeld, Freizeitbegleitung, sämtliche Hilfen waren nicht bekannt und mussten erst beantragt werden. Sie hatten keine Ahnung davon, was ihnen zu steht. Wir benötigen dafür mehrsprachiges Personal und Informationsmaterial.

Es fehlt auch die Selbstverständlichkeit und das Selbstvertrauen, als Mitglied der Gesellschaft staatliche Hilfeleistungen einzufordern. Einige Familien haben uns von ihrer Sorge berichtet, mit der Inanspruchnahme staatlicher Leistungen benachteiligt zu werden. Sie fürchten sich vor der Stigmatisierung als Sondergruppe mit spezifischem Bedarf. Einige Familien haben auch schlechte Erfahrungen gemacht, Diskriminierungen erlebt und sind so stark verunsichert. Eine Vertrauensbasis zu schaffen ist das Wichtigste.

Gentner: Die Elternarbeit ist für uns das A und O. Wir müssen die Eltern überzeugen, dass wir die Kinder unterstützen. Wir möchten auch die Eltern unterstützen, dass sie selbstbewusst und ohne Moderation und Hilfen klar kommen.

Genießen Ihre Kollegen mit Migrationshintergrund sozusagen einen Vertrauensvorschuss?

Gentner: Die Hürde wird auf jeden Fall kleiner. Bei ISS haben über 80 Prozent der Sozialarbeiter, Psychologen und Pädagogen einen Migrationshintergrund. Daher kommen wir auch so gut an bei den Familien, weil da einfach viele Kollegen und Kolleginnen sind, die sagen: ‘Ich kenne diese Erfahrung der Migration, die damit verbundenen Schwierigkeiten, ich kenne die Erfahrung der Diskriminierung‘. An viele Informationen kämen wir sonst einfach nicht ran. Über kurz oder lang wünschen wir uns aber, dass alle Mitarbeitenden im sozialen Bereich interkulturelle Kompetenzen mitbringen und Unternehmen die interkulturelle Öffnung mittragen. Ich wünsche mir, dass es irgendwann eine Zeit gibt, wo es keine Projekte speziell für MigrantInnen mehr geben muss. Für uns als Träger heißt dies, dass wir langfristig unsere Dienstleistung in verschiedenen Bereichen der Sozialen Arbeit anbieten. Wir wollen dann nicht mehr nur der interkulturelle Träger ISS sein. Ähnlich der Entwicklung im Bereich der Inklusion von Menschen mit Behinderung.

Welche Erwartungen haben die Eltern an ihre Kinder?

Gentner: Die Eltern wünschen sich oft, dass ihre Kinder einen hoch qualifizierten Beruf lernen. Das Ziel unserer Beratung ist es dann, im Gespräch mit den Eltern und ihren Kindern die Erwartungen, die Kompetenzen und Fähigkeiten und die Wünsche des Kindes sowie die Fördermöglichkeiten der Hilfesysteme in einen realistischen Weg der Berufsorientierung zu lenken.

Kellinghaus-Klingenberg: Dafür sind die Hausbesuche ganz wichtig, denn dort kann man eine gute Vertrauensbasis aufbauen.

Haben Sie durch die Arbeit ganz andere Konzepte von Behinderung kennengelernt?

Kellinghaus-Klingenberg: Wir fangen an umzudenken. Ich habe in diesem Jahr sehr sehr viel gelernt. Es ist für mich ein unglaubliches Geschenk und eine unglaubliche Bereicherung, mit diesen Familien arbeiten zu dürfen. Ein Beispiel: Ich bin zum Beispiel sehr direkt, falle mit der Tür ins Haus. Jetzt habe ich gelernt, dass sich das bei vielen Migrantenfamilien überhaupt nicht gut macht. Man lässt sich Zeit, trinkt eine Tasse Tee, fragt nach dem Befinden, erst dann fängt man an wichtige Dinge anzusprechen. Das muss man erst mal verstehen. Da hilft mir mein Partner und ist ganz wichtig für mich. Denn auch auf der deutschen Seite herrscht Unsicherheit, zum Beispiel bei mir.

Gentner: Wir denken, dass es wichtig ist, sich innerhalb seiner Gruppe zu stärken. Die Mitglieder sollen selbstbewusst aus der Gruppe rausgehen, dann aber auch in Kontakt mit den deutschen Eltern treten. Daher hat es uns natürlich sehr gefreut, dass die Eltern sofort diesen Wunsch geäußert haben.

Welche Rolle spielt der Glaube in den Familien?

Kellinghaus-Klingenberg: Der Glaube spielt eine Rolle. Aber es ist sehr unterschiedlich. Ich habe gelernt, dass der Grad der Religiosität häufig von der Herkunftsregion abhängig ist. Von liberal bis konservativ reicht da die Palette. Bei einer konservativen Familie beispielsweise habe ich erfahren, dass alle zusammen für sechs Wochen in den Sommerurlaub fahren, dass die Eltern den Urlaub aber in einem Hotel größtenteils getrennt verbringen. Frauen und Männer getrennt. Der junge Mann mit Behinderung war die ganze Zeit beim Vater, er hat den ganzen Sommer auf den Jungen aufgepasst. So was muss man wissen, denn ich hatte im Vorfeld des Urlaubs mit der Mutter die Erziehungsvereinbarungen getroffen. Der Vater wusste aber gar nichts davon. Da habe ich wieder gelernt, dass man mit beiden Eltern sprechen muss, beide informieren muss, damit es beim Kind ankommt.

Man hört ja des Öfteren, dass Familien mit Migrationshintergrund keine Hilfen benötigen, sei es bei der Versorgung von älteren Migranten oder von Angehörigen mit Behinderung, weil sie ein großes intaktes Netzwerk hätten, das sich kümmert. Machen Sie auch diese Erfahrungen?

Kellinghaus-Klingenberg: Die Praxis spiegelt das einfach nicht wieder, dass die Familien die Angehörigen in dem Maß unterstützen können, wie es ihnen unterstellt wird. Vielleicht im Entscheidungsprozess, aber sonst doch nicht. Es kam schon vor, dass ich mich in meinen Sprechstunden mit Tanten über die Zukunft ihres Neffen unterhalte. Auch ihnen wurde zum Beispiel verheimlicht, dass der junge Mann Epilepsie und eine Lernbehinderung hat. Für sie war die Wahl des Praktikumsplatzes nämlich völlig unverständlich. So mussten wir auch mit der community Beratungsgespräche führen.

Gentner: Ich weiß nicht genau, wohin diese Diskussion führt. Ob diese Gedanken absichtlich geäußert werden, weil man sich nicht kümmern will. Viele Familien leben hier in kleinen Wohnungen, ohne Großfamilie, genau so, wie die meisten Menschen in der Regel hier auch leben. Auch Migranten führen hier das Leben in Kleinfamilien und ihre Kinder haben oft nicht die Möglichkeit, sich um ihre Eltern zu kümmern, genau wie in deutschen Familien auch. Sie haben sich an die typisch deutsche Kleinfamilie angenähert. Auch lässt oft die wirtschaftliche Situation eine solche Unterstützung einfach nicht zu.

Ich danke Ihnen für das Gespräch!