Islam in Deutschland

Können wir so bleiben, wie wir sind – oder wer lernt von wem?

Die Herausforderung von Migration und Integration liegt für die Mehrheitsgesellschaft in der Frage, wie der Lern- und Veränderungsdruck an die Zugewanderten weitergegeben werden kann; gegen den Strich gebürstet lautet diese Frage jedoch „Wie können wir ‚Einheimischen‘ so bleiben, wie wir sind?“

Die Themen Islam, Migration und Integration stehen seit dem vergangenen Jahr auf der öffentlich verhandelten Agenda so weit oben wie selten zuvor. Dabei ist das Islambild in Deutschland, so repräsentative Umfragen, von starken Vorurteilen und Stereotypen geprägt: Angst vor einer „vom Islam“ ausgehenden Gewalt kennzeichnet die öffentliche Debatte. Sie ist aber nur ein Teil der Auseinandersetzung über das Eigene und das Fremde – und diese gründet sich oftmals auf unreflektierte Annahmen.

Der 11. September 2001 und die darauffolgenden Kriege in Afghanistan und im Irak sowie einige Präventionserfolge in der Verhinderung vermutlich geplanter Terroranschläge der deutschen staatlichen Stellen haben die negative Haltung gegenüber „dem Islam“ verstärkt. Im Mai 2006 sahen laut einer Allensbach-Umfrage zwischen 60 und 91 Prozent der Befragten „den Islam“ als fanatisch, intolerant, rückständig, undemokratisch und vor allem als frauenfeindlich an. Darüber hinaus hat die Art und Weise der Debatte in Deutschland über „den Islam“ zum Negativimage beigetragen.

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Diese Debatte entzündet sich meist an lokalen Themen wie Moscheebau wie z.B. in Köln, sog. Brennpunkte in Wohngebieten und Schulen und an „Integrationsproblemen“, mit denen andersartiges Verhalten etikettiert wird. Übergeordnete Themen wie Kopftuch, Ehrenmorde, Kofferbomben und geplante Terroranschläge sowie Berichte über grausame Strafpraktiken im Namen der Scharia überhöhen die lokalen Themen, nähren die Befürchtung, „der Islam“ zerstöre die liberal-westliche Gesellschaft in Deutschland und gipfeln in der Quintessenz: „So wollen wir hier nicht leben.“ Die Debatte ist damit überwiegend konfliktfokussiert.

Zum Konfliktfokus trägt auch bei, dass meist miteinander unverbundene Gruppen die öffentliche Debatte führen: Experten versuchen, eine differenzierte Wahrnehmung über „den Islam“ herbeizuführen, seiner Vielfalt und Strahlkraft in Deutschland umfassend Rechnung zu tragen und dem Negativimage auf einem hohen sachlichen Wissens- und Kenntnisstand zu begegnen. Zu den Experten und – meist politischen – Eliten gehören auch die kulturellen Mahner. Sie erfahren öffentlich eine größere Resonanz, da „Normalverbraucher“ ihnen durch die Wahrnehmung der „interkulturellen Unfallberichte“ des täglichen Lebens Plausibilität zusprechen. Hier spielt – je nach journalistischem Genre – die Konfliktfokussiertheit oder die mangelnde konstruktive Konfliktsensitivität mancher Medien eine Rolle. Eine Auseinandersetzung war selbst im und nach dem Sarrazin-Hype eher die Ausnahme.

Inwieweit die Meinungsmacher in ihrem Alltag muslimischen Gruppen in Deutschland begegnen, darf infrage gestellt werden. Neben Experten und kulturellen Mahnern schließt sich eine dritte Gruppe von Meinungsmachern mehrheitlich von einer eigenen lebensweltlichen Erfahrung und von der Auseinandersetzung aus. Die Traditionswahrer verweigern sich meist dem interreligiösen Dialog. Allen öffentlich gewürdigten Anstrengungen zum Trotz scheitert das bloße Zustandekommen dieses Dialogs oft an dogmatischer Voreingenommenheit.

Die letztgenannte Gruppe zeigt am deutlichsten, worum es im Kern geht: Die Debatte über Islam, Migration und Integration beinhaltet die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, mit der Abgrenzung von fremder Identität – und das bewirkt oft die Abwehr des Gedankens, dass es eine Identität geben kann und gibt, die sich aus mehreren Wurzeln speist und nicht nur aus einer einzigen. Das Konzept der multiplen Identität beunruhigt nach wie vor in hohem Maße das Seelenleben einer christlich ausgerichteten Kultur. Für eine zunehmend große Gruppe innerhalb der Bevölkerung ist die multiple Identität aber eine lebensgeschichtliche Tatsache.

Die Identitätsfrage schließt eine weitere Frage ein, die meist a priori und implizit beantwortet zu sein scheint: Wer muss lernen und wer muss sich verändern? Der Lern- und Veränderungsdruck wird den Menschen mit Migrationshintergrund auferlegt, und das hört beim „richtigen“ Erlernen der deutschen Sprache noch lange nicht auf. Diese Lernaufgabe dauert im Grunde ein Leben lang, besonders und gerade, wenn der „Lerninhalt“ als Kanon des „Deutschen“ aufgefasst wird. Auf eine etwas makabre, aber symptomatische Art wird die Lernaufgabe ein letztes Mal gestellt, wenn es z. B. um die Zulassung islamischer Bestattungen auf deutschem Boden geht. In Yasemin und Nesrin Şamderelis Film „Almanya – willkommen in Deutschland“ zieht es Hüseyin, der Zuwanderer der ersten Generation, vor, während einer Reise in der Türkei zu sterben. Die Familie beerdigt ihn in „heimischer“ Erde; er ist dahin gegangen, wo er herkommt (und diese Formulierung soll durchaus an den gleichlautenden aggressiven Appell erinnern).

Die lebenslange Unerfüllbarkeit des „Deutsch-Werdens“ bringt die Asymmetrie des Lern- und Veränderungsdrucks und das darin enthaltene kulturelle Verhältnis auf den Punkt. Dieser Gedanke kann das „dem Islam“ zugeschriebene Gewaltpotenzial und den Verdacht, dieser wolle die Lebensweise der „Einheimischen“ zerstören, deutlich relativieren.

Die Herausforderung von Migration und Integration liegt also für die Mehrheitsgesellschaft zunächst in der Frage, wie der Lern- und Veränderungsdruck an die Zugewanderten weitergegeben werden kann; gegen den Strich gebürstet lautet diese Frage jedoch „Wie können wir ‚Einheimischen‘ so bleiben, wie wir sind?“ Darin kann man den Kern des Integrationsproblems sehen, das die Mehrheitsgesellschaft mit zugewanderten Menschen hat. Eine Antwort besteht in der mangelnden Öffnung oder gezielten Abschottung der Lebensbereiche von Einheimischen und Zugewanderten; gerade dieses Verhalten produziert die Voraussetzungen für Parallelgesellschaften, deren Existenz den Zugewanderten gerne als mangelnde Integrationsbereitschaft vorgeworfen wird. Im Übrigen stellen sich Zugewanderte diese Frage ebenfalls, wenn auch unter anderen Voraussetzungen. In dieser Gemengelage dürfte es schwer sein, Lösungen zu finden.

Die eigentliche Herausforderung liegt in der Frage, was das Eigene der „Einheimischen“ ist, das da verteidigt werden muss. Sie wird im Topos der „Leitkultur“, der lediglich ein inhaltlich beliebig zu füllendes Bollwerk gegen Andersartigkeit und Vielfalt darstellt, nicht beantwortet. Zum Legitimationsgewinn wird dieses Eigene in staatstragender Absicht oft mit der demokratisch-rechtsstaatlichen Kultur Deutschlands in Verbindung gebracht.

Bereits 1990 formulierte Oskar Negt „fünf gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen“, deren erste er darin sah, den Umgang mit bedrohter und gebrochener Identität zu lernen und aus „gelungener Balancearbeit“ Energien für die Bewältigung neuer Lebenssituationen zu gewinnen (zusammenfassend dargestellt in „Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche“, Steidl 1997). Erstaunlicherweise bezog er dies nicht auf Migration, sondern auf die Erosionen der durch den Kapitalismus geprägten Gesellschaft. Deren kulturelle Grundmuster seien Vertreibung und Flexibilität als individuelle Lösungsaufgabe; darin lassen sich Migration und Arbeitsmigration ohne Schwierigkeiten fassen.

Schon deutlich in außenkulturpolitischer Absicht forderte Wolf Lepenies Mitte der Neunzigerjahre in seinem Vortrag “Wozu deutsche Auswärtige Kulturpolitik?“ politische und gesellschaftlichen Akteure in Europa und speziell in Deutschland dazu auf, von der Belehrungskultur zu einer Lernkultur zu wechseln. Nur so könnten sie den bevorstehenden Herausforderungen in einer zusammenwachsenden Welt entgegentreten. Da sich die europäische Welt in der Vergangenheit gegen außereuropäische Kritik verschlossen habe, sei ihre Kultur bei der Belehrung stehen geblieben, so Lepenies.

In globaler Perspektive veröffentlichte die internationale Kommission der UNESCO ebenfalls Mitte der Neunzigerjahre einen Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert mit dem deutschen Titel „Lernfähigkeit. Unser verborgener Reichtum“. Als eine der vier Säulen der Bildung nennt der Bericht: Lernen, zusammenzuleben, also Respekt vor anderen Kulturen und Menschen zu entwickeln und sich der eigenen begrenzten Sicht der Welt bewusst zu werden.

Fünfzehn bis zwanzig Jahre nach diesen Denkanstößen und angesichts des geschilderten Islambilds ist die Frage nach Lernfähigkeit, nach Lerngemeinschaften und nach einer gelingendem Balance in Deutschland brisanter denn je. Vor allem wurde eine Frage bislang kaum gestellt: WAS sollen, WAS können „Einheimische“ und „Zugewanderte“ voneinander lernen, damit sie in Lerngemeinschaften den „verborgenen Reichtum“ als Schatz heben und in „gelingender Balancearbeit“ Energien für die Bewältigung neuer Lebenssituationen gewinnen? Dies ist die Schlüsselfrage für eine Integrationspolitik.

Neben all den „interkulturellen Unfallberichten“ nimmt die Zahl der Darstellungen über Projekte zwischen alteingesessenen Deutschen und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte – wie z. B. das „interkulturelle Gärtnern“ – und über ermutigende Erfahrungen darin zu. In solchen Kooperationen werden offenbar „das Eigene“ und „das Fremde“ erfahrbar, lösen sich aus einer Erstarrung und bilden etwas Neues. Solche Erfahrungen sind oft in Dokumentationen zu Integrationsprojekten niedergelegt, werden aber bislang nur lokal wahrgenommen. Für eine abstrakte und polarisierende Begriffsebene wie die der „Identität“ und der „Leitkultur“ – eine Ebene, die auch politische Wirksamkeit entfalten könnte – eignen sie sich anscheinend kaum. Aber in ihnen leuchtet eine Vorstellung von „So wollen wir gemeinsam leben“ auf.

Das Beispiel der Wirtschaft zeigt in verkürzter Weise, worum es dabei geht: Sie lernt, weil sie es muss: „Vielfalt als Chance“, das Leitmotiv der Charta der Vielfalt, ist ein positiv formuliertes Überlebensmotto; unter den gegebenen demografischen Bedingungen und einem beginnenden Fachkräftemangel werden aus billigen Arbeitsmigranten nun wertvolle, weil rare Arbeitskräfte. Dabei wirken die wirtschaftlichen Ziele für alle Beteiligten disziplinierend und üben einen sanften Zwang zu gelingendem Lernen, konfliktarmer Veränderung und funktionierender Kooperation aus. Im Einzelfall stellen nämlich das polykulturelle Wissen und ein einzigartiger, hybrider Fähigkeitenmix einen Entwicklungs-, Design-, Marketing- und Servicevorteil dar.

Welches wäre nun das große gesellschaftliche Ziel der Lerngemeinschaften? Welche gesellschaftlichen Ziele, die – vielleicht von Visionen beflügelt („So wollen wir gemeinsam leben“) – demokratisch gleichberechtigt ausgehandelt werden und nicht die Eindimensionalität wirtschaftlichen Erfolgs aufweisen, können den sanften Zwang zu gelingendem gemeinsamen Lernen ausüben? Zu lange hat sich die Integrationsdebatte in Deutschland mit – weich oder hart formulierten –Anpassungsforderungen befasst. Derzeit ist die Debatte demografisch motiviert.

Allen Debatten zum Trotz ist der Ernstfall die gemeinsame Zukunft von Menschen verschiedener Kulturen. Das Nachdenken darüber steht am Anfang: Die Lebenswelten bestehen zunehmend und nur gewaltsam umkehrbar aus Mischformen. Es gibt nur noch „hybride Kulturen“ (Lepenies) – übrigens ein Grund dafür, dass Huntingtons „Clash of Civilizations“ nicht bestehen konnte, da er vom Islam im Singular spricht und den Westen insgeheim genau so denkt. Auch gilt diese Herausforderung für „den Islam“ selbst: Das Zusammenleben der Vielfalt seiner religiösen Strömungen in einem einzigen Staat kann einen Lerndruck für Muslime selbst darstellen.

Wenn also vom Lern- und Veränderungsdruck die Rede ist: Gibt es gemeinsame Lernräume zwischen Einheimischen und Zugewanderten? Und wenn ja, wo? Haben alle, auf die es ankommt, Zugang zu diesen Räumen? Sind es „Möglichkeitsräume“ im Sinne von Terkessidis‘ „Interkultur“? Gibt es sie im Alltag, in der Hochkultur? Und welche neuen Paradigmen entstehen dabei? Kann es eine andere Wahrnehmung von Vielfalt geben als die der Bedrohung einer als homogen interpretierten eigenen Kultur und Geschichte?

In Kreisen der Hochkultur hat die Globalisierung das Denkmodell der „Migration der Künste“ hervorgebracht. In dieser Formulierung wird deutlich, dass der künstlerische Ausdruck sich in Themen und Positionen nicht an nationalstaatliche Grenzen hält und durch die tatsächliche Migration von Künstlerinnen und Künstlern sowie die nahezu globale Beliebigkeit von Produktions- und Vertriebsstandorten vielfältige Hybride hervorbringt. Der Gedanke der „Migration in den Künsten“ scheint das zeitgenössische Theater in Deutschland (anders als die Literatur und den Film) erst vor wenigen Jahren erreicht zu haben (DIE ZEIT 29/2007).

Letzteres mag man in dieser Entschiedenheit bezweifeln, aber wenn mit Brecht gesprochen das Theater der Ort ist, an dem die Gesellschaft – zumindest experimentell – ausgehandelt und erprobt wird, dann stehen wir auch hier an einem zaudernden Anfang. Die ZEIT zitiert Altmeister Roberto Ciulli mit Formulierungen, die ihre Nähe zu oder gemeinsame Quellen mit dem oben genannten Oskar Negt nicht verleugnen können und auch nicht zu Lepenies und der UNESCO. Umso bedrückender, dass man diese Zitate im Jahr 2011, sechzig Jahre nach der ersten Anwerbung von Gastarbeitern aus Italien, als aktuelle Erkenntnis verkaufen kann: „Migration ist eine Alibifalle. Wir müssen endlich lernen, dass es keinen Unterschied zwischen Migranten und Nichtmigranten gibt, dass unsere Gesellschaft ihre Probleme nur auf die Gruppe der Migranten abschiebt.“

Das Leugnen von Unterschieden hat seine taktische Berechtigung. Aber in der Sprache von Oskar Negt, in der Formulierung „So wollen wir gemeinsam leben“ scheint das auf, was das Ziel globalen Lernens, das Ziel von Lerngemeinschaften ist, was die große gesellschaftliche Vision, den Ernstfall gemeinsamer Zukunft leiten könnte, was den Unterschieden ihren Raum lässt, ohne sie zum unüberwindlichen Hindernis aufzuwerten, und was gleichzeitig ein Trost für die Zumutungen der Globalisierung sein kann: Die Gestaltung von gemeinsamer Heimat in Deutschland, einer Heimat, in der jede und jeder gleichsam bei sich zu Hause beerdigt werden kann.