Bildung

Migrantenkinder auf der Überholspur

Die Begriffe Bildung und Migranten rufen in den Köpfen bestimmte Bilder hervor. Bilder sind Träger von Botschaften. Im obigen Fall verbreiten sie die Botschaft, Migranten sind per se ungebildet oder – politisch korrekt formuliert – bildungsfern.

Ob dies eine reine Zustandsbeschreibung ist oder ein erwünschtes Politikum bleibt diskussionswürdig. Doch zum ersten Mal rückte dieses Problem in das öffentliche Bewusstsein mit dem PISA-Schock vor 10 Jahren. Damals waren die Schuldigen schnell dingfest gemacht: die Migranten. Inzwischen fallen zumindest die wissenschaftlichen Erklärungsansätze differenzierter aus. Grob betrachtet haben sich seither zwei Lager herausgebildet. Während einige Erziehungswissenschaftler a) das Bildungssystem für diese Misere verantwortlich machen, sehen andere die Ursache dafür b) in der Familie und Herkunft.

a) In der Vorstellung des ersten Lagers diskriminiere das Bildungssystem Schüler mit Migrationshintergrund. Es fange sie nicht auf und fördere sie nicht optimal. Laut diesen Forschungen werden in den Grundschulen Migrantenkinder öfter als ihre deutschen Mitschüler an Förderschulen (Schulen für Lernbehinderte) delegiert. Beim Übergang in die Sekundarstufe bekommen sie auch bei guten Noten eher eine Real- oder Hauptschul- statt einer Gymnasialempfehlung.

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b) Andere Forscher suchen die Ursache eher in der Familie bzw. im Herkunftsmilieu. Migrantenfamilien sind ungebildet und es fehlt ihnen an finanziellen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten. Migrantenkinder scheitern öfter als deutsche Kinder, auch wenn sie dieselbe Schule besuchen. In Migrantenfamilien spricht man nur die Muttersprache, die für den Schulerfolg nicht förderlich ist. Für Materialien wie Wörterbücher, Lexika, usw. hat man keine Gelder zur Verfügung. Gebildete Personen sind in solchen Kreisen nicht gegenwärtig. Der Besuch eines Museums oder Theaters steht auch nicht auf der Tagesordnung von Migrantenfamilien. Alle diese Punkte zusammen ergeben, dass Kinder in der Schule scheitern, weil sie die Bedeutung der Bildung nicht erfahren.

Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Zusammengenommen zeigen diese Forschungen, dass Migrantenkinder eine doppelte Benachteiligung erleben. Von Zuhause werden sie mit herkunftsspezifischen Benachteiligungen verabschiedet und in der Schule heißt man sie mit ankunftsspezifischen Benachteiligungen willkommen. Indessen wird diese bundesdeutsche Bildungsarmut sogar von der UNO und der OECD angeprangert. Denn in deutschen Schulen werde alles, was nicht der DIN entspricht als Problemfall wahrgenommen. Der Weg vom Problemfall zur Lernbehinderung ist dann nur noch ein Willensakt. Einige Lehrer diagnostizierten eine Lernbehinderung, wo eigentlich Sprachmangel herrscht. Es ist sicherlich leichter solche (Problem-)Fälle an Sonderschulen (Förderschulen) abzuschieben. Ihre Richtigkeit bleibt aber weiterhin fragwürdig.

Bildung ist für viele ein (Lebens)Weg, voller Stolpersteine und Engpässe. Jenseits medialer Bilder und wissenschaftlicher Forschungen schaffen immer mehr Migranten auf die (Bildungs-)Überholspur. Dann und wann hängen sie sogar alle ab und kommen als Erster ans Ziel. Einzelerscheinung? Keineswegs! Der Schulalltag ist hierfür ein klares Indiz. In Hamm z.B. rückte eine Schülerin mit „Migrationshintergrund“ in den Bildungsvordergrund. Unter den 186 Abiturienten des Märkischen Gymnasiums Hamm (MGH) waren auch viele Migrantenkinder. Der Einserdurchschnitt der türkischstämmigen Schüler stach dabei besonders ins Auge. Den zweitbesten Platz unter den Abiturienten der Schule errang Uğur Altuner mit einem 1,0 Notendurchschnitt. Er möchte ein erfolgreicher Jurist werden.

Was würde wohl Sarrazin dazu sagen, wenn den ersten Platz eine Kopftuch tragende Schülerin bekommen würde? Wahrscheinlich würde er ziemlich bedröppelt aussehen. Genau das ist passiert. Der erste Platz ging an die Türkin Afra Mertek. Bei der Zeugnisübergabe war die ganze Aufmerksamkeit des Saals nur ihr gewidmet. Eine zierliche, freundliche Schülerin mit Kopftuch besteigt die Bühne und erhält unter tobendem Beifall der Mitschüler und Gäste ihr Abiturzeugnis mit einem Durchschnitt von 1,0 ausgehändigt. Der ganze Saal applaudiert im Stehen. Viele sind gerührt, als sie hören, dass sich Afra Mertek nicht nur mit ihren Noten auszeichnete, sondern auch durch ihre vielen sozialen Engagements in und außerhalb der Schule. Nebenbei erfährt man auch, dass sie die 11. Klasse übersprungen hat.

Solche Bilder sind längst keine Einzelerscheinungen mehr. Allein in Hamm verzeichnet man unter den Einser-Abiturienten Dutzende türkische Schüler. Auch überregional hört man von ähnlichen positiven Berichten. 50 Jahre Einwanderungsgeschichte hat gezeigt, dass Migranten wie Afra Mertek inzwischen zum Normalfall geworden sind. Für Afra Mertek ist Erfolg kein Entweder-oder-Prinzip, sondern ein gesunder Ausgleich von allem. So fühlt sie sich der türkischen und der deutschen Kultur gleichermaßen verbunden. Diese bilden für sie keinen Widerspruch. Die islamische Kunst des Kalligraphierens gehört genauso zu ihr, wie die Klassiker der deutschen Literatur. In der Beschäftigung mit den Nachhilfeschülern geht sie besonders auf, denn die Arbeit bereite ihr enormen Spaß und eine unvorstellbare Zufriedenheit. Seit mehr als 5 Jahren hilft sie verschiedenen Problemschülern dabei, ihren eigenen (Lebens)Weg zu gehen.

Das untere Interview mit Afra Mertek wurde in der Hoffnung geführt, dass die Thematisierung von erfolgreichen Prototypen ein Stückchen Normalität in hitzig geführte Debatten rund um Bildung und Migranten bringen möge. Es soll zeigen, dass die scharfen Trennlinien und Mauern zwischen Migranten und Einheimische eher in den Köpfen herrschen als in der Realität. Zugleich zeigt es auch, wie ein entschlossener Wille Berge versetzen und Brücken bauen kann.