Wir brauchen endlich die transkulturelle Gesellschaft!

Die Anschläge in Oslo haben die Fundamente der europäischen Gesellschaften tief erschüttert. Wie können Deutschland und Europa auf die Drohungen aus den extremistischen Rändern der Gesellschaften am besten antworten?

Von Kamuran Sezer Dienstag, 26.07.2011, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 27.07.2011, 0:27 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Mit den abscheulichen und brutalen Anschlägen in Oslo hat die vermeintliche Islamkritik in Deutschland und in ganz Europa nun endgültig ihre Unschuld verloren!

Konnten die sogenannten Islamkritiker stets auf den 11. September Bezug nehmen, so haben die Gegner der Islamkritik mit den Anschlägen in Oslo ein Datum, das die empirische Evidenz für ihre Kritik an der Islamkritik liefert. Dies jedoch kann und sollte für niemanden ein Trost sein:

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93 Menschen – darunter sehr viele Junge – sind bisher den Anschlägen zum Opfer gefallen. Da sind die Haut- und Haarfarbe sowie die religiöse Überzeugung und die ethnische Herkunft irrelevant – denn am Ende dieses schrecklichen Tates bleibt nämlich nur die einzig evidente Erkenntnis übrig, dass die Tränen, die nun über die Wange Europas rinnen, gleich sind!

Aus diesem schrecklichen Ereignis müssen drei Lehren gezogen werden:

Erstens: Wieder auf die Mitte der Gesellschaft besinnen!
Wir müssen uns wieder auf die “Mitte der Gesellschaft” besinnen! Und vor allem sollten wir uns dabei bewusst machen, dass in der Mitte der Gesellschaft nicht einzig der “weiße Mann” Platz eingenommen hat. Sie ist schon lange multiethnisch und -religiös aufgestellt. Multikulti ist daher nicht tot! Die multiethnische und -religiöse Gesellschaft ist der einzige Lösungsweg, wenn man gesellschaftlichen Frieden und ökonomischen Wohlstand nachhaltig gewährleisten will!

Denn die Anschläge in Oslo haben uns auf schmerzvolle Weise vorgeführt, dass die Sicherheit einer Gesellschaft von ihren extremistischen Rändern bedroht wird – und nicht von konstruierten Geistern, die von politischen Partikularinteressen instrumentalisiert werden. Nach Oslo haben wir nun endgültig die Erkenntnis gewonnen, dass der Extremismus dunkle oder blonde Haare haben, die Mohammed Atta oder Anders Behring Breivik heißen können.

Zweitens: Weder Interkultur noch Multikultur – sondern Transkultur!
Die soziodemografischen Parameter sind irreversibel, und sie können nur mit einem Akt gewalttätiger Intervention rückgängig gemacht werden, welche die Grundlagen einer Gesellschaft fundamental erschüttern würde!

Wir werden nicht, sondern wir sind bereits eine multiethnische- und religiöse Gesellschaft, die nicht mit dem Deutschen oder dem Christentum anfängt und beim Türken oder dem Islam aufhört. In Deutschland leben über 90 Nationen, aus allen Ecken der Welt mit allen bekannten und unbekannten Religionen und Sprachen.

Deswegen ist eine transkulturelle Identität die unabdingbare Voraussetzung. Wir benötigen einen konsensualen Wertekonstrukt, unter diesem Dach, die verschiedensten Identitäten und religiöse Bezüge zusammengefasst werden können:

Das Konzept der transkulturellen Gesellschaft bildet damit einen referentiellen Mittelpunkt, die an alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen adressiert ist. Eine solche Gesellschaft stellt damit nicht nur an die Aufnahmegesellschaft Forderungen. Auch die Einwanderer sind aufgefordert, in diese Gesellschaft zu investieren. Traditionen, Gebräuche und Sitten müssen kritisch reflektiert und auf den Prüfstand gestellt werden.

Der effektivste Weg dorthin verläuft über gesellschaftspolitische Verhandlungsarenen. Im weitesten Sinne stellen die Islamkonferenz und der Integrationsgipfel solche oder ähnliche Verhandlungsarenen dar. Es muss jedoch kritisch angemerkt werden, dass diese in den vergangenen Jahren gemessen an deren originären Ideen politisch pervertiert aber zumindest deformiert wurden. Heute sind sie zahnlose Tiger, die beeindrucken aber keinen Sinn machen.

Die Verhandlungsarenen sind aber für die Bildung und Verstetigung der transkulturellen Gesellschaft wichtig. Denn dort funktioniert der Aushandlungsprozess jenseits der Profit- und Machtlogik politischer und ökonomischer Partikularinteressen und der Medien. Bei Letzteren muss gar kritisch angemerkt werden, dass sie sich einer “Empörungsindustrie” bedienen, von der sie nicht nur ökonomisch und politisch profitieren, sondern auch einseitige Zerrbilder der multiethnischen und -religiösen Realitäten in der Gesellschaft vermitteln.

Drittens: Anpassung des gesellschaftspolitischen Bildungsauftrags in den gesellschaftlichen Institutionen
Die multiethnische und -religiöse Gesellschaft muss zum Normalfall der gesellschaftlichen Realität werden! Hiervon sind wir in Deutschland noch ein ganzes Stück entfernt!

Gehört der Islam zu Deutschland oder nicht? Sind wir ein Einwanderungsland oder doch nicht? Benötigen wir eine aktive Einwanderungspolitik? Und wenn ja, wie soll die Integration der Einwanderer aussehen? Und nach welchen Kriterien beurteilen wir erfolgreiche Integration?

Diese Grundsatzdebatten sind aber Scheindebatten, die vom Wesentlichen ablenken: Es geht um die Zugänge und um die Verteilung von Macht und Wohlstand in der Gesellschaft. Die transkulturelle Gesellschaft wird funktionieren, wenn knappe und verknappte Ressourcen wie Arbeit, Bildung, Macht, Partizipation und Anerkennung allen Gesellschaftsmitgliedern gleichermaßen zugänglich gemacht werden. Dies wird nur gelingen, wenn in der Aufnahmegesellschaft, die im Zugang dieser Ressourcen im Vorteil ist, die Einsicht und Bereitschaft wächst, diese mit den bereits Eingewanderten und den noch zu Einwandernden teilt.

Diese Einsicht und Bereitschaft sind zwingende Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, da die soziodemografischen Parameter sich unumkehrbar verschoben haben. Wir können dies in den Geburtsanstalten der Krankenhäuser, in den Schulen, auf dem Wohnungsmarkt, in den Altenheimen der Nation – ja sogar in der deutschen U17-Nationalmannschaft beobachten.

Mit einer Verzögerung wird diese soziodemografische Realität auch die Unternehmen erreichen. Denn diese werden in weniger als zehn Jahren ihr Humankapital aus einem multikulturellen Arbeitskräfteangebot schöpfen. Die Gesamtgesellschaft und ihre Institutionen müssen mit einem klaren Bildungsauftrag auf diese – eigentlich bereits existente – gesellschaftliche Realität konsequent vorbereitet werden.

Wir brauchen endlich die transkulturelle Gesellschaft, die durch die Mitte der Gesellschaft akzeptiert wird. Denn sie ist die beste Antwort und der beste Weg, Brandstiftern allen Couleurs ihre Grenzen zu zeigen. Aktuell Meinung

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