Bundestag-Gutachten

Deutschland missachtet Visafreiheit und zahlreiche weitere Rechte türkischer Staatsbürger

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages kommt zu dem Ergebnis, dass die Visumspflicht für Türken rechtswidrig ist. Das Gleiche gilt auch für die Verpflichtungen zu Integrationskursen oder die Beschränkungen des Ehegattennachzugs.

„Es ist pure Heuchelei, wenn die Bundesregierung von Migranten ständig die Beachtung der Rechtsordnung einfordert, selbst aber europäisches Recht aus politischem Kalkül bewusst missachtet“, kommentiert Sevim Dagdelen, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion, ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zu den Rechten türkischer Staatsangehöriger.

Die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags sind parteiübergreifend und Teil der Abteilung Wissenschaft und Außenbeziehungen. Zu ihnen gehören 11 Fachbereiche, die die Abgeordneten bei ihrer politischen Arbeit in Parlament und Wahlkreis durch Fachinformationen sowie Analysen und gutachterliche Stellungnahmen unterstützen.

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Auch für Deutschland verbindliches Abkommen
Das bisher nicht veröffentlichte und dem MiGAZIN vorliegende Gutachten befasst sich mit zahlreichen Rechtsfragen und kommt zu Ergebnissen, die der Bundesregierung nicht gefallen dürften: Türkische Staatsbürger unterliegen keiner Visumspflicht. Außerdem verstoßen zahlreiche Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes und insbesondere Gesetzesverschärfungen, die unter der Federführung von Schwarz-Gelb entstanden sind, gegen höherrangiges Recht und sind auf türkische Staatsbürger nicht anwendbar.

Diese Rechte ergeben sich aus dem Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft mit der Türkei, die bereits im Jahre 1963 geschlossen wurde. „Ein Assoziierungsabkommen ist die umfassendste und intensivste Form einer Zusammenarbeit der Europäischen Union (EU) mit Drittstaaten“, heißt es dazu im Gutachten. Die Regelungen des Assoziationsrechts haben „Vorrang und entfalten in den Mitgliedsstaaten eine unmittelbare Wirkung. Der nationale Gesetzgeber ist zur Umsetzung der Regelungen des Assoziationsrechts verpflichtet.“

Stillhalteklausel
Die Ziele des Assoziierungsabkommens sind die Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, unter anderem durch die schrittweise Errichtung einer Zollunion, und letztlich der Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft. Dieses Abkommen wurde in den Folgejahren durch mehrere Zusatzprotokolle und Beschlüsse untermauert und konkretisiert.

Von besonderer Bedeutung sind dabei die Stillhalteklauseln, die 1980 Gegenstand des Vertrages wurden. Danach dürfen die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Ebenso darf der Zugang zum Arbeitsmarkt für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen nicht eingeschränkt werden. Damit konservieren die Stillhalteklauseln den Rechtszustand, der zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags gültig war. Dabei gilt das Günstigkeitsprinzip: Veränderungen der Rechtslage zugunsten eines Betroffenen sind möglich, nachteilige Veränderungen nicht.

Visumpflicht
So auch bei der Visumpflicht für türkische Staatsbürger. Laut Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages erfasst die Stillhalteklausel sowohl die aktive als auch die passive Dienstleistungsfreiheit und erfasst somit „vor allem Touristen“.

MiG-Dossier: Rechtsprechung, Einzelheiten, Hintergründe und die Politik der Bundesregierung zur Thematik im MiG-Dossier „Visumsfreiheit für Türken„.

„Durch die Entscheidungen [des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)] … dürfte daher endgültig geklärt sein, dass türkische Staatsangehörige visumsfrei in das Bundesgebiet einreisen und sich ohne Aufenthaltstitel dort aufhalten dürfen“, so das eindeutige Fazit der Gutachter.

Laut Dagdelen bestätigt das Gutachten „eine in der Fachwelt mehrheitlich verbreitete Rechtsauffassung, wonach zahlreiche Gesetzesverschärfungen im Aufenthaltsrecht der vergangenen Jahre auf die Hauptbetroffenengruppe der türkischen Staatsangehörigen nicht anwendbar sind“.

Integrationskurse, Ehegattennachzug, Aufenthaltsbeendigung
Denn auch der jüngst mit den Stimmen von Schwarz-Gelb beschlossenen „Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Zwangsheirat“ ist laut Gutachten „wohl nicht mit der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB Nr. 1/80 vereinbar.“ Das Gesetz sieht vor, dass eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis jeweils auf höchstens ein Jahr befristet werden soll, wenn der Ausländer zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet ist, diesen aber noch nicht erfolgreich abgeschlossen hat.

Einen weiteren Vertragsbruch begeht Deutschland laut Gutachten auch mit den Beschränkungen zum Familiennachzug. Seit 2007 müssen nachzugswillige Ehegatten vor der Einreise nachweisen, dass sie sich auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können. „In Fortführung der Argumentation des EuGH ist diese Regelung wohl nicht mit der Stillhalteklausel vereinbar. …. Gleiches gilt wohl für die Festlegung eines Mindestalters (18 Jahre)“, so der Wissenschaftliche Dienst.

In diesem Zusammenhang verkommt auch die Erhöhung der Mindestehebestandszeit für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Ehepartners von zwei auf drei Jahre für türkische Staatsbürger zur Makulatur. Auch diese Neuregelung ist „wohl nicht mit dem Assoziationsrecht vereinbar und als neue Beschränkung im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 zu werten“, so das Fazit des Wissenschaftlichen Dienstes.

Schließlich, so die Gutachter, ergeben sich aus dem Stillhalteklausel auch Auswirkungen auf aufenthaltsbeendigende Maßnahmen durch Ausweisungen. Hier gelte § 10 des Ausländergesetzes aus dem Jahre 1965. Damals war eine Ausweisung in keinem Fall zwingend und erforderte stets eine umfassende Prüfung des konkreten Einzelfalls. Insbesondere die 1990 eingeführte Ist- bzw. Regelausweisung sei jedoch eine Verschlechterung der Rechtslage.

Europarecht umsetzen
Dagdelen fordert die Bundesregierung auf, ihre „jahrzehntelange Hinhalte- und Verweigerungstaktik“ zu beenden und im Umgang mit türkischen Migranten EU-Recht uneingeschränkt umsetzen. „Das wäre auch eine gute Nachricht zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens“, so die Linkspolitikerin.

Nach dem, was die Bundesregierung aber bisher zum Thema veröffentlicht hat, ist das eher unwahrscheinlich. In zahlreichen parlamentarischen Anfragen wich sie Fragen aus, beantwortete sie unzureichend oder gar nicht.

Hoffnung macht da allenfalls eine Vorlage des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom April 2011 beim EuGH. Das Gericht möchte wissen, ob türkische Staatsbürger zu touristischen bzw. Besuchszwecken ohne Visum in die Bundesrepublik einreisen dürfen. Sollte die Antwort des EuGH der bisherigen Rechtsprechung entsprechend ausfallen, dürfte die Bundesregierung in schwere Erklärungsnot geraten. (bk)