Auge des Betrachters

Islamische Vielfalt

Es hat ein halbes Jahrhundert gebraucht, bis Wolfgang Schäuble 2006 bemerkte: „Der Islam ist Teil Deutschlands.“ Niemand regte sich damals darüber auf. Erst als Bundespräsident Christian Wulff feststellte, auch der Islam gehöre zu Deutschland, brachen lautes Heulen los. Warum tun sich viele Menschen mit dieser Feststellung hierzulande so schwer?

Der Islam ist weltweit die am schnellsten wachsende monotheistische Religion. Mit mehr als 1,4 Milliarden Anhängern bildet er nach dem Christentum die zweitgrößte Religionsgemeinschaft. Muslime leben heute in nennenswerter Zahl auch in Ländern und Regionen, wo noch vor wenigen Jahrzehnten niemand mit ihrer dauerhaften Präsenz rechnete: In der Europäischen Union mit ihren knapp 500 Millionen Einwohnern sind es zwischen 18 und 20 Millionen; in Frankreich gibt es mehr als fünf Millionen und in Deutschland bis zu 4,3 Millionen Muslime.

Nach Jahrzehnten unscheinbarer Existenz in Hinterhofmoscheen sind Muslime in den vergangenen Jahren mehr in Erscheinung und ins Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft getreten. Von muslimischen Extremisten verübte Terroranschläge in New York, Bali, Madrid, London, Casablanca, Istanbul und an zahlreichen anderen Orten der Welt haben viele Menschen hierzulande aufgeschreckt. Eine seit September 2001 häufig gestellte Frage lautet: „Warum hassen sie uns?“ Mit „sie“ sind nicht nur verblendete Terroristen gemeint, sondern Muslime allgemein, die aus einer Fülle von Gründen schnell unter Generalverdacht geraten. Dabei wird oft übersehen, dass die weitaus meisten Opfer terroristischer Anschläge religiös verbrämter Extremisten Muslime waren und sind, und dass Muslime mit großer Mehrheit den im Namen des Islams verübten Extremismus ablehnen.

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Der zweite Grund dafür, warum der Islam in den vergangenen Jahren zu einem Dauerthema geworden ist, sind innergesellschaftliche Entwicklungen. Viele einst als Gastarbeiter nach Deutschland gekommene Muslime sind nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt. Sie haben hier Familien gegründet, Existenzen aufgebaut, Karriere gemacht und damit begonnen, ihr Gemeindeleben zu organisieren. Dazu gehören auch der Bau sichtbarer und mitunter repräsentativer Moscheen, die Einforderung von Verfassungsrechten sowie der Wunsch nach Lehrer- und Imamausbildung.

Der Islam ist Teil Deutschlands
Es hat ein halbes Jahrhundert muslimischer Zuwanderung nach Deutschland gebraucht, bis der CDU-Grande und damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der Deutschen Islam Konferenz (DIK) im September 2006 bemerkte: „Der Islam ist Teil Deutschlands.“ Niemand regte sich damals darüber auf. Erst als Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit 2010 feststellte, auch der Islam gehöre zu Deutschland, brachen lautes Heulen und Zähneknirschen unter Politikern, Publizisten und einfachen Bürgern los. Warum tun sich viele Menschen mit dieser Feststellung hierzulande so schwer? Knapp die Hälfte der hier lebenden Muslime sind deutsche Staatsbürger. Sie haben die gleichen Rechte und Pflichten wie alle Bürger unseres Landes – ihr Glaube darf dabei keine Rolle spielen. Eine gefühlte und angenommene Fremdheit steht wie eine unsichtbare Mauer zwischen Nichtmuslimen und Muslimen. Zentrale Elemente dieser Mauer sind Unwissen von- und übereinander und sich daraus speisende Vorurteile. Der Islam kann ebenso wenig wie das Christentum als ein monolithischer Block angesehen werden. Er ist ungemein vielfältig und facettenreich.

In 57 Ländern der Welt stellen Muslime eine Bevölkerungsmehrheit. In Dutzenden von Staaten bilden sie beachtliche Minderheiten. Die weitaus meisten Muslime leben heute außerhalb der einstigen nahöstlichen Stammlande. Sie sind in Indien, Pakistan, Bangladesch, Malaysia, China und vor allem Indonesien zu Hause. Der Islam hat ebenso wie das Christentum im Laufe der Geschichte Brüche und Verwerfungen erlebt. Der Graben zwischen Sunniten (90 %) und Schiiten (10 %) ist wahrscheinlich mindestens so tief wie der Graben zwischen Katholiken und Protestanten. Und ebenso wie beim Christentum weist die Geschichte des Islams dunkle Seiten der Bedrängnis, der Unduldsamkeit und des Fanatismus auf. Es ist unsinnig, das im Namen der jeweiligen Religion begangene Unrecht gegeneinander aufrechnen zu wollen.

Kultureller Überlegenheitsdünkel
Es ist auf der anderen Seite unlauter und unfair, 1.400 Jahre islamische Zivilisation durch die Brille kulturellen Überlegenheitsdünkels zu betrachten. Kulturen entwickeln sich, sie werden nicht über Nacht geboren. Die Entstehung von Zivilisationen sind fließende Prozesse. Vor 4.000 Jahren waren die Ägypter Träger der Hochkultur; vor 2.500 Jahren übernahmen Perser und Griechen; vor 2.000 Jahren folgten die Römer; vor 1400 Jahren Muslime – und jenseits unseres eurozentrischen Weltbildes erklommen Inder und Chinesen ungeahnte kulturelle Höhen. Ein wesentliches Merkmal von Hochkulturen besteht darin, dass sie auf Vorangegangenem gründen, geerbte Wissensschätze nutzen und das Rad der geistigen Schöpfung mit eigenen intellektuellen Leistungen weiterdrehen. Genau das geschieht während der islamischen Blütezeit zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert. Von Wissenschaftlern muslimischer Reiche sind unendlich viele Impulse in Mathematik und Medizin, in Chemie und Astronomie ausgegangen, ohne die der Aufstieg Europas schlicht nicht möglich gewesen wäre. Die weltweit mehr als 1,4 Milliarden Muslime stehen heute vor großen Herausforderungen. Diese Herausforderungen sind aufgrund nationaler und regionaler Besonderheiten zwar sehr unterschiedlich. Doch in allen muslimischen Ländern gibt es eine erkennbare Grundthematik: Welche Auswirkungen haben Globalisierung und Moderne, die beide in enger Wechselwirkung miteinander stehen, auf die jeweiligen Gesellschaften?

In Deutschland sind viele Menschen der Meinung, unser Land sei für beides gut gerüstet, weil wir als Reiseweltmeister rund um den Globus jetten und jedes sichtbare Nabelpiercing per se Auskunft über unsere moderne Grundhaltung gibt. Die Probleme der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit den hiesigen Muslimen zeugen indessen davon, dass das Ausmaß der Globalisierung nur teilweise begriffen worden ist. Denn Globalisierung bedeutet nicht nur Flexibilität bei der Produktfertigung mit Blick auf die internationale Konkurrenz. Sie bedeutet auch Zuwanderung, weil der Arbeitsmarkt es verlangt, weil es durch moderne Technologien einen beispiellosen Informationsfluss gibt und weil Grenzen für Waren und Menschen immer durchlässiger werden. „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen.“ Von Max Frisch stammt diese zum geflügelten Wort gewordene Aussage. Die Menschen brachten ihre Religion, ihre Werte und ihre Traditionen mit. Wie schwer sich unsere Gesellschaft mit dem neuen Teil Deutschlands, den Muslimen, tut, haben die Debatten der vergangenen Monate deutlich gezeigt. Das Potential der Neuen kann genutzt werden, wenn die Furcht vor dem Fremden der Lust auf Neues weicht.

Ein unvoreingenommener Blick
Viele Missverständnisse im Umgang mit Muslimen in westlichen Ländern basieren auf einer angenommen kulturellen Überlegenheit, die in den Vorwurf mündet, DER Islam kenne keine Aufklärung und habe deshalb Probleme mit Demokratie und Moderne. Westlicher Überlegenheitsdünkel hat viel mit einem an Ignoranz grenzenden Eurozentrismus zu tun, der kulturelle Leistungen anderer Zivilisationen möglichst klein hält, um „eigenes“ Wirken groß erscheinen zu lassen. Ein unvoreingenommener Blick in die Vergangenheit von Morgen- und Abendland könnte Erkenntnisse zu Tage fördern, die gegenseitigen Respekt und damit auch gegenseitiges Verständnis fördern. Der Islam hat viele Gesichter und Facetten: schöne und hässliche, faszinierende und abstoßende. Darin unterscheidet er sich nicht von anderen Religionen. Die Schönheit liegt bekanntermaßen im Auge des Betrachters. Dessen Herausforderung besteht darin, sich nicht zu Verklärung oder Dämonisierung hinreißen zu lassen, sondern sich um Verstehen und Verständnis zu bemühen.