EU-Marathon der Türkei

Erdogan in Deutschland. Fluch oder Segen?

Erdogan in Deutschland. Was bleibt? Neben einem weiteren Integrationsbekenntnis, vor allem, die Litanei an ausufernder Kritik und das dumpfe Gefühl, dass Erdogans Auftritt der Integration der Türken in Deutschland und dem EU-Beitrittprozess der Türkei geschadet haben könnte.

Drei Jahre lag der letzte Besuch Erdogans zurück, da kehrte der türkische Ministerpräsident selbstbewusst – seiner wirtschaftlichen und politischen Erfolge völlig gewahr – nach Deutschland zurück. Am Montag hielt er eine polarisierende Rede in Düsseldorf, die sich im Wesentlichen nicht von der vorigen unterscheidet. Er warnte – wie gewohnt – vor Assimilation, vor Ausländerfeindlichkeit und bekannte sich zur Integration.

„Die Beitrittsverhand- lungen mit der Türkei beenden, solange die Türkei die Religionsfreiheit nicht achte.“

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Deutsche Politiker entrüstet!
Fast einhellig ist die Meinung – sogar parteiübergreifend – deutsche Politiker von Rang und Klang zeigen sich entrüstet über die Äußerungen des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan.Was war jedoch geschehen? Hatte Erdogan etwa die Bürgerinnen und Bürger mit türkischer Zuwanderungsgeschichte zur Illoyalität oder zu verfassungswidrigen Handlungen gegen Deutschland angestachelt oder gar aufgerufen, verstärkte Lobbyarbeit zugunsten des EU-Beitritts zu betreiben? Nein, der Streit entbrannte an seiner Äußerung, dass türkische Kinder zuerst Türkisch und dann Deutsch lernen sollen! So fühlte sich etwa Unions-Fraktionschef Volker Kauder auf den Plan gerufen. Seine Forderung: Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beenden, solange die Türkei die Religionsfreiheit nicht achte.

„Die erneute dogmatische Haltung gegen den Türkeibeitritt dürfte das „C“ in der CDU wieder mehr in den Vordergrund rücken und in den kommenden Landtagswahlen, die eine oder andere Stimme einbringen.“

Herr Kauder kommt jedoch gute sechs Monate, vielleicht sogar fünf Jahre zu spät. Denn seit 2006 geht es in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ohnehin nicht mehr weiter, allein in den letzten sechs Monaten wurde kein weiteres Kapitel – von insgesamt 35 – eröffnet. Folglich darf man Kauders Kritik als kleine Wahlkampfparole werten. Die erneute dogmatische Haltung gegen den Türkeibeitritt dürfte das „C“ in der CDU wieder mehr in den Vordergrund rücken und in den kommenden Landtagswahlen, die eine oder andere Stimme einbringen.

Der Türkei-Experte der FDP-Bundestagsfraktion Serkan Tören kritisiert derweil Kauders Äußerungen scharf, bezeichnet sie als populistisch und verweist auf den Koalitionsvertrag. Sich mit Blick auf die angeblich mangelnde Religionsfreiheit in der Türkei für einen Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen auszusprechen, entspreche in keiner Weise dem Koalitionsvertrag. In diesem Zusammenhang müsse Kauder auch die Situation der muslimischen Minderheiten in Griechenland erwähnen.

Erdogan als Wahlkämpfer in Deutschland?
Die Parlamentswahlen in der Türkei finden am 12. Juni 2011 statt, sodass man Erdogans Auftritt in Deutschland allein vor diesem Hintergrund interpretieren könnte. Denn 1,3 Mio. in Deutschland lebende türkische Wähler dürften wählen, wenn sie denn auf türkischem Boden wären. Bundeskanzlerin Merkel hatte derweil Grünes grünes Licht für den Vorschlag des türkischen Ministerpräsidenten gegeben, in Deutschland lebenden Türken die Stimmabgabe in türkischen Konsulaten und in der türkischen Botschaft zu ermöglichen. Allerdings hat der Vorsitzende der Wahlkommission (YSK) in der Türkei Ali Em – türkischen Zeitungsberichten zufolge – keine solche Anfrage von der türkischen Regierung erhalten. Ali Em erklärte weiter, dass die Stimmabgabe im Ausland in den dort ansässigen Konsulaten erst zu den nächsten Wahlen stattfinden könne. Erdogan als Wahlkämpfer in Deutschland? Folglich, nein!

„Kommissionspräsident Barroso hatte bereits vor den Beitrittsverhand- lungen in 2005 die Türkei aufgefordert, die Köpfe und Herzen der Menschen in Europa zu gewinnen.“

Schadet Erdogans Auftritt dem EU-Beitrittsprozess der Türkei?
Der SPD-Politiker Martin Schulz erklärte, dass Erdogans Politik für einen Beitritt der Türkei sicherlich kontraproduktiv sei. Dem mag man beipflichten. Während Erdogan im Nahen und Mittleren Osten zu den beliebtesten Politikern zählt, hat er in Europa seit Jahren einen schweren Stand. Dies liegt an seinen patriotischen Auftritten in Europa, teils an der allgemeinen Ablehnung eines EU-Beitritts sowie an der kulturellen Verschiedenheit der Türkei. Kommissionspräsident Barroso hatte bereits vor den Beitrittsverhandlungen in 2005 die Türkei aufgefordert, die Köpfe und Herzen der Menschen in Europa zu gewinnen. Wann und ob dies gelingt, bleibt auch in Zukunft mehr als fraglich.