Wochenrückblick

KW 5/11 – Einwanderung, Burka, Sarrazin, Migranten, Islamophobie, Ägypten

Themen der 5. Kalenderwoche: Linke Selbstkritik; Bundestagspräsident pro Einwanderung; Die Burka in Frankfurt; Migranten zur Polizei; Islamophobie und Antisemitismus; Ägypten und die Muslim-Feinde in Deutschland

Von Leo Brux Montag, 07.02.2011, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 20.02.2011, 17:53 Uhr Lesedauer: 8 Minuten  |  

Kritik an der Linken
Klaus Bade formuliert in der taz linke Selbstkritik. Die Linke war der Herausforderung durch Sarrazin nicht so recht gewachsen. Warum? Der Interviewer deutet eine mögliche Schwäche an:

Wo bleibt die emotionale Besetzung der Nation? Hat die Linke in Deutschland nicht ein Problem mit dem Begriff der Nation?

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Bade verweist zunächst auf die Selbstblockade der Linken gegenüber der „Leitkulturdebatte“.

Man kann den Begriff wechseln, aber man muss da durch. Eine Einwanderungsgesellschaft, die sich scheut, eine Werte- und Identitätsdebatte zu führen, kriegt auf die Dauer ein Problem.

Fehlt es der Linken an Mut in der Integrationsdebatte? Bade:

Mut und Wut sind keine politischen TÜV-Kriterien. Aber die sogenannte Linke könnte gelegentlich mal deutlicher sagen, was gut oder im internationalen Vergleich sogar sehr gut läuft in diesem Land. Man muss ja nicht immer gleich schwer atmend auf irgendwas „stolz“ sein. Aber man sollte endlich mit dem Rücken weg von der Wand und angreifen. Man sollte die Vielfalt in der Einheit betonen, sie als unerhörtes und kompromisslos zu verteidigendes Gut präsentieren. Eine sogenannte Linke, die die Einwanderungsgesellschaft mit ihren Begriffen kritisch, aber positiv und, wenn es denn der Identitätsfindung dient, von mir aus auch „emotional“ besetzt, wäre eine realistische Alternative zu dem Sarrazinom mit seinen wuchernden Metastasen.

Noch eine Argumentations-Zugabe aus diesem Interview:

Die Muslime werden en bloc als die Inkarnation des Fremden konstruiert. Das hat viel mit ethnonationalen Denktraditionen in diesem Land zu tun. Man muss endlich lernen, dass die Identität eines Menschen die Summe seiner Teilidentitäten ist. Die Rede von „den Muslimen“ ist, so betrachtet, nichts als die Verabsolutierung einer Teilidentität. Ich bin Christ. Aber ich verbitte mir entschieden, dafür denunziativ in Sippenhaftung genommen zu werden. Die Grundwerte unserer Verfassung geben uns das Recht auf diese Vielfalt. Und die ändert sich dauernd. Nur die Grundwerte selbst stehen außerhalb jeder Disposition.

Bundestagspräsident Lammert mach sich stark für Einwanderung
Die Linken in Deutschland sind in diesen Einwanderungs- und Integrationsfragen nicht mehr allein. Bundestagspräsident Lammert (CDU) beantwortet auf einer Wahlkampfveranstaltung (!) die Frage „Warum ist Baden-Württemberg heute wirtschaftlich so stark?“ – so schreibt die Badische Zeitung – so zu beantworten: Es ist auch der Zuzug …

Der drastisch sinkenden Zahl an Beitragszahlern – zuletzt wurden in Deutschland 1974 mehr Menschen geboren als starben – könne nur durch Migration begegnet werden, sonst würden die sozialen Sicherungssysteme zusammenbrechen. „Das ist eine ganz einfache Rechnung“, so Lammert. „Das sichere Ausschließen der damit verbundenen Probleme bedeutet auch das sichere Ausschließen der Chancen“ von Migration. Gerade Baden-Württemberg zeige, dass der Zuzug von Menschen ein enormes Innovationspotenzial berge, das den Südweststaat mit zu dem gemacht hat, was er heute ist: ein Land mit starker wirtschaftlicher und finanzieller Entwicklung und hoher Lebensqualität.

Mal wieder die Burka
Zur Integration müssen beide Seiten bereit sein. Die Muslime sind es. Auch in der muslimischen Gemeinschaft stößt jene 39-Jährige Frankfurter Angestellte, die sich plötzlich für die Burka erklärt hat, auf wenig Verständnis. Der Westen bringt drei Stellungnahmen:

„Das Ansinnen der Frau finde ich absurd“, sagt Naime Cekir vom Kompetenzzentrum muslimischer Frauen in Frankfurt. Ein solches Verhalten überfordere die Grenzen der Toleranz – nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft sondern auch bei den Muslimen selbst.

„Wir haben ein Kopftuchgebot, fordern aber nicht die Verschleierung des gesamten Gesichts“, erläutert der Generalsekretär der als konservativ eingeschätzten und vom Verfassungsschutz beobachteten Dachorganisation der „Milli Görüs“ in Bonn. „Wer in der Öffentlichkeit arbeiten möchte, muss sich fragen lassen, ob er dort mit seiner Burka an der richtigen Stelle ist.“

Auch beim Dachverband der Ditib-Vereine in Köln ist man irritiert. „Der Vollverschleierung fehlt jegliche religiöse Legitimation“, sagt die Referentin für Öffentlichkeitsarbeit Ayse Aydin.

spiegel online ergänzt:

„Wir sind irritiert über das Verhalten der Frau und akzeptieren das nicht“, sagt die Generalsekretärin des Zentralrats der Muslime Nurhan Soykan. Ihr Verband trete für Selbstbestimmung ein, aber der Vorstoß zur Vollverschleierung sei kontraproduktiv und „erzeugt größeres Misstrauen gegen junge Musliminnen, die den Berufseinstieg mit Kopftuch wagen“, so Soykan. Ein Verbot lehnt sie aber ab: „Es handelt sich in Frankfurt um einen Einzelfall, und hier wird man auch ohne Verbot eine Lösung finden.“

Ähnlich äußert sich Ali Kizilkaya, Vorsitzender des Islamrats: „Diese Frau schadet mit ihrer Forderung den Muslimen.“ Die Mehrheit der Gläubigen teile ihre Auffassung nicht, dass der Islam eine Vollverschleierung vorschreibe. „Ich habe Verständnis dafür, dass Menschen im Bürgeramt das Gesicht der Mitarbeiterin sehen müssen“, so Kizilkaya.

Ist Kübra Gümüsay integriert?
Was aber verlangt Sarrazin, wenn er von Integration spricht? Sarrazin tritt auf in einer britischen Radiosendung der BBC, in der er seine Thesen vorstellen und gegen die Einwände von AnruferInnen verteidigen soll. Eine von denen, die fragen sollten, ist Kübra Gümüsay. Sie trägt Kopftuch und berichtet in ihrer regelmäßigen taz-Kolumne (auch im MiGAZIN abgedruckt):

Ich saß als Gast der Sendung in einem Hamburger Radiostudio und erwartete unser Aufeinandertreffen. Als es dann so weit war, erzählte ich ihm, dass ich in Deutschland studiert habe, die Sprache gut spreche, mich hier engagiere und fragte, was er noch von mir erwarte. Er antwortete: „I want yu tu intekräyt.“ Ich lachte, das war einfach zu lustig. Der große Experte weiß nichts Besseres, als mir solch eine Banalität hinzuwerfen wie einen alten Knochen?

Perfektes Deutsch und Studium an der Uni genügen Sarrazin nicht.

Mehr Bundespolizisten aus Migrantenfamilien
Integration heißt auch, dass Migranten allmählich integriert werden in Berufsbereiche wie die Polizei. (Quelle: fr-online)

Die Bundespolizei will am größten deutschen Flughafen in Frankfurt mehr Beamte mit ausländischen Wurzeln einsetzen. „Wir suchen auch tüchtige Realschüler, nicht nur Akademiker“, sagte der Präsident des Bundespolizeipräsidiums in Potsdam, Matthias Seeger, am Montag in Frankfurt. Für den Nachwuchs soll an Haupt-, Real- und Gesamtschulen im Frankfurter Raum sowie im Rundfunk, im Internet und in Zeitungen geworben werden. Das bundesweite Pilotprojekt mit dem Titel „Gewinnung von Nachwuchskräften mit Migrationshintergrund“ läuft seit April 2010 bereits in Wiesbaden. Rund 3,5 Prozent der etwa 2150 Bundespolizisten am Frankfurter Flughafen haben einen Migrationshintergrund. Dieser Anteil soll auf etwa 20 Prozent erhöht werden, kündigte der Präsident der Bundespolizei vom Flughafen, Wolfgang Wurm, an.

Islamfeindschaft und Antisemitismus: verwandt?
Klaus Schroeder, Professor an der FU Berlin und Spezialist für den SED-Staat, ärgert sich im Deutschlandradio über diese seiner Meinung nach unzutreffende Verknüpfung:

Um die vermeintliche Islamophobie aufzuwerten, wird sie von nicht wenigen linken Sozialwissenschaftlern auf eine Stufe mit dem Antisemitismus gestellt. Offenbar soll suggeriert werden, die Muslime seien die Juden der heutigen Zeit und von millionenfacher Vernichtung bedroht. Was für eine absurde Unterstellung! Die versuchte Gleichsetzung von Antisemitismus und Islamophobie verdeckt darüber hinaus, dass judenfeindliche Einstellungen in Deutschland heutzutage auch und besonders unter Muslimen verbreitet sind.

Worum es den Kritikern im Kern geht, wird deutlich, wenn sie Antiislamisten – wie früher Antikommunisten – vorwerfen, die Werte des Westens, die auch in der deutschen Verfassung niedergeschrieben sind, zum Maßstab ihrer Bewertung zu nehmen. Allein dies sei schon anmaßend. Hier zeigt sich, dass diese Kritiker nicht nur als „nützliche Idioten“ islamistischen – und früher kommunistischen – Machthabern dienen, sondern gleichzeitig westliche Werte relativieren, die individuelle Menschenrechte und die Beachtung der Menschenwürde umfassen. …

Der Vorwurf der Islamophobie soll letztlich in Analogie zur Kritik des Antikommunismus den Islam gegen Kritik immunisieren. Dem zu widerstehen, ist Bürgerpflicht!

Die Hetzewelle der letzten Monate scheint an Professor Schroeder vorbei gegangen zu sein. Ich betrachte es nicht als meine „Bürgerpflicht“, Rassisten zu schützen und eine religiöse Minderheit einem Pogrom preiszugeben. Denn darauf kann die massenhaft betriebene Hetze am Ende hinauslaufen.

Ägypten und die Muslim-Feinde in Deutschland
Es wird viel spekuliert über die mögliche Rolle der Muslimbrüder für die Zukunft Ägyptens. Ein Aspekt des spektakulären Aufruhrs dort könnte die Debatte in Deutschland etwas entspannen. Die meisten der Demonstranten, mit denen sich fast alle in Deutschland identifizieren, sind – gläubige Muslime. Keine Islamisten, sondern moderne, säkular orientierte, aber eben doch auch gläubige Muslime, die man dann auf dem Tahrir ihr Freitagsgebet verrichten sehen kann.

Ein Blog zum Geschichtsunterricht legt diesen Gedanken nahe.

Es wäre wünschenswert, wenn die Ereignisse in Tunesien, Ägypten und den anderen Ländern auch zu einem veränderten deutschen/europäischen Blick auf „die“ Muslime beitragen würden, die in den letzten Jahren viel zu oft falsch und pauschalisierend als religiöse Eiferer und antidemokratisch wahrgenommen und dargestellt wurden. Oft war dies verbunden mit dem Verweis auf die Diktaturen der arabischen Welt, die, wie nun spätestens klar wird, einen nicht wesentlichen Teil ihrer Stärke aus europäischer und US-amerikanischer Unterstützung gezogen haben. ….

Es wäre schön, wenn durch die intensive Berichterstattung in möglichst vielen europäischen Köpfen ein Konzeptwechsel gefördert würde, der vorhandene Vorurteile als offensichtlich nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmend verwirft und durch differenzierte Sichtweisen ersetzt. Wochenschau

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  1. Pragmatikerin sagt:

    Gelesen in Welt Online:

    http://www.welt.de/politik/deutschland/article12572077/Union-plant-strenge-Deutsch-Pflicht-fuer-Zuwanderer.html#disqus_thread

    Meine Meinung dazu:
    Jeder Ausländer, der künftig in Deutschland leben und arbeiten will, muss sich dazu verpflichten, Deutsch zu lernen und sich zu Werten wie Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung bekennen.

    Ausserdem müssen sich unsere etablierten Politiker dringend mit dem Begriff „Taqiyya“ (die Taqiyya auseinandersetzen (arabisch ‏تقية‎, DMG taqīya, ,Furcht, Vorsicht‘) bezeichnet im Islam die Erlaubnis, bei Zwang oder Gefahr für Leib und Besitz rituelle Pflichten zu missachten und den eigenen Glauben zu verheimlichen), dann wären sie nicht mehr ganz so naiv oder würden „erleuchtet“ ;-)

    Diese ganzen Maßnahmen, die von unseren „Volksvertretern“ vorgeschlagen werden, sind doch immer nur die kleinstmöglichen Schritte, um die eventuellen Wähler zu beschwichtigen und nicht zu vergraulen.

    Wenn bei den Etablierten ein wirklich ernstzunehmender Wille bestünde, in Sachen Immigration und Integration eine deutschlandfreundliche Politik zu betreiben, dann würden sie rasch die ganzen Vorschläge aus „Deutschland schafft sich ab“ in die Tat umsetzen!
    Aber nein, das geht ja nicht, dazu müsste man ja Fehler im Umgang mit Herrn Sarrazin eingeräumt werden.

    Ich fordere für Europa und Deutschland – dass konsequent das gleiche Procedere angewandt wird in Punkto Spracherwerb wie in den englischsprachigen Ländern wie USA und Australeien. Nur wer Englisch prechen und schreiben kann, hat überhaupt eine Chance einwandern zu dürfen, wenn auch die anderen Einwanderungskriterien erfüllt sind.

    Pragmatikerin