Bei den Sikhs

Fünf Stunden ganz weit weg in Hamburg

Weltweit gibt es rund 20 Millionen Sikh, von denen ungefähr 10.000 in Deutschland leben. Ein Besuch bei der Sikh Gemeinde in Hamburg – der Kontakt, das Geschehen vor Ort und die Eindrücke. Eine Reportage von Anika Schwalbe.

Laut schallt die Musik durch die leicht geöffnete Tür. Der für meine Ohren ganz ungewohnte Klang bringt meinen Körper in Schwingung und schürt meine Ungeduld, endlich den Tempel zu betreten.

Zwischen mir und dem Gurdwara Singh Sabha Sikh-Center, eine Art Tempel im Hamburger Stadtteil Wandsbek, liegen ein Raum und ein Junge namens Harmanpreet Singh. Der 12-jährige wurde mir zur Seite gestellt, als seine Mutter erfuhr, dass ich diesen Ort zum ersten Mal besuche. Ruhig steht er in der Tür, lächelt und schaut zu, wie ich drei Mal ansetze, um meine Haare mit einem orangefarbenem Tuch zu bedecken, wartet bis ich meine Schuhe abgelegt habe und führt mich in eine andere Welt.

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Von Prinzessinen und Löwen
Während draußen ein nebliges, graues Wetter die Umrisse der Gebäude im Industriegebiet mit dem Horizont verwischen lässt, tollen im Innern Kinder unter bunten Fähnchen. Im Takt der Musik strömen süße und herzhafte Gerüche durch den Tempel.

Die Sikh - der Eingangsbereich © Anika Schwalbe

Es ist Sonntag, der Tag an dem die Sikh sich ab den Mittagsstunden in ihrer Gemeinde treffen, zusammen beten, musizieren und gemeinsam essen. Es gibt keine festen Zeiten. Aus den 10 Paar Schuhen, die neben meinen im Vorraum stehen, werden zwischenzeitlich um die 100. Nach und nach kommen die Mitglieder der Gemeinde in ihren Tempel.

Gurdwara wird der Ort genannt, an dem sich die Sikhs zu Gottesdiensten treffen. Der wohl bekannteste ist der Hamandir Sahib Amritsar im heutigen Punjab in Nordindien. Weltweit gibt es rund 20 Millionen Sikh, von denen ungefähr 10.000 in Deutschland leben. Es ist eine junge Religion. Im 15. Jahrhundert wurde sie vom ersten der 10 Gurus, Guru Nanak (1469-1539), in Nordindien gegründet. Ihre wichtigsten Grundfesten sind der monotheistische Glauben, die Abkehr vom Aberglauben, das Fehlen jeglicher, gesellschaftlicher Hierarchisierung und die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Als Zeichen der Gleichheit tragen die Frauen den gemeinsamen Nachnamen Kaur (Prinzessin) und die Männer Singh (Löwe).

Das Heilige Buch
Wie Harmanpreet laufe ich zu einem kleinen Altar, geschmückt wie man ihn nur in Bollywoodfilmen vermutet. In eine große, eiserne Truhe werfe ich 2 Euro – eine kleine Spende, wenn man bedenkt, dass viele Sikhs großzügig Scheine spenden. Aber ich denke mir, mal schauen was mich erwartet. Ich zahle ja keine 5 Euro, wenn es mir nicht gefällt. Was für ein merkwürdiger Gedanke. Als würde ich in diesem kleinen Sikh-Tempel eine bestimmte Attraktivität erwarten, für die ich im Nachhinein auch bereit wäre zu zahlen. Überlegungen, die mich beschäftigen, während ich mich auf Knien vor dem Heiligen Buch verbeuge.

Der Altar © Anika Schwalbe

Das Heilige Buch, Guru Granth Sahib, ist 1430 Seiten stark und beinhaltet keine Dogmen und Geschichten, sondern Lobpreisungen und Weisheiten. Guru Gobind Singh, der zehnte Guru, veranlasste, dass nach seinem Tod nur dem Heilige Buch die Würde eines Gurus zuteil werden dürfe und keinem Menschen mehr.

Die Zeremonie
Links vor dem Altar sitzen überwiegend Frauen mit ihren Kindern, rechts die Männer. Ich sitze im Schneidersitz und während ein Mädchen mir hin und wieder etwas über den Gottesdienst erzählt, gehen mir im Klang der Musik immer wieder Gedanken durch den Kopf: Alle Frauen sehen mit ihren Tüchern und ihrer Kleidung unglaublich hübsch aus. Ich hingegen trage mit meiner blassen Haut dieses orangefarbene Stück Stoff, das mir ständig runterrutscht. Ich schäme mich für das Tuch. Und während mir in regelmäßigen Abständen die Beine einschlafen, sitzen die Sikh mit einer Leichtigkeit im Schneidersitz auf dem mit weißen Bettlaken bedeckten Boden. Bin ich wirklich so ungelenkig?

Während der Zeremonie wechseln sich drei Priester regelmäßig ab. Sie setzen sich hinter den Altar und wedeln mit einer Art Fächer über dem Heiligen Buch. Chauri, ein Fächer, an dessen Ende sich Tierhaar befindet. Während ich mich nach gefühlten zwei Stunden gerade mit dem Sitzen arrangiert habe und die von der Musik und Predigt ausgehende Ruhe aufsauge, werde ich angetippt. Alle stehen schon. Ich erhebe mich, um mich einen kurzen Moment danach mit allen Sikhs vor dem heiligen Buch erneut zu verbeugen. Nun wird laut gebetet. Es sind Worte, die ich nicht verstehe, die aber aufgrund ihres Klanges meine ganze Aufmerksamkeit fordern und sich wie eine Art Gesang den Weg ins Innere meines Körpers bahnen.

Parshad © Anika Schwalbe

Plötzlich kommt ein Priester auf mich zu. Man flüstert mir ins Ohr, die Hände zu öffnen und das Geschenk des Priesters entgegenzunehmen. Er greift in eine Schüssel und formt einen Teig zu einer Art Klumpen, den er mir in die Hand legt. Es ist ein weicher, hellbrauner Brei. Vorsichtig nehme ich ein Stück in den Mund. Es ist süß und warm. Parshad nennt sich diese Süßspeise aus Getreide, Zucker, Butterschmalz und Wasser. Es ist wie eine Art Segen, der nach dem Gottesdienst unter den Anwesenden verteilt wird.

Die 5 Kakars
Kurz darauf steht Charanjit Singh Mayall neben mir. Er ist der Generalsekretär der Gemeinde. Wie einige Männer trägt er einen kunstvoll gebundenen Turban, unter dem sich gepflegtes, ungeschnittenes Haar verbirgt – eins der fünf so genannten Kakars. Diese zeigen, wer sich im Erwachsenenalter einer Art Taufe (Amritsanchar) unterzogen hat. Hierbei nehmen die Sikh Amrit zu sich, ein heiliges Wasser aus speziellem Zucker und Wasser. Zuerst wird es getrunken und anschließend etwas davon in die Augen und die Haare des Sikh gesprenkelt.

Mit dieser Initiation zeigen sie, dass sie mit der Lebensweise einverstanden sind und die 5 Kakars tragen werden. Zu diesen zählen Kes (das ungeschnitte, gepflegte Haar steht u.a. für Stärke und Achtung vor Gottes Schöpfung), Kangha (ein Holzkamm, der Sauberkeit und Reinheit symbolisiert, da mit ihm das ungeschnittene Haar gepflegt wird), Kirpan (ein traditioneller Dolch, der Gerechtigkeit und spirituelle Kraft ausdrückt), Kachera (ein kurze Hose, die für Sauberkeit und Keuschheit steht) und Kara (ein Stahl- bzw. Eisenarmreif, der die Verbindung zu Gott symbolisiert und früher auch Schutz vor Schwerthieben bot).

Gewürzketchup
Bevor ich in den Gurdwara kam, hatte ich mit Charanjit Singh Mayall telefoniert. Er informierte mich darüber, in keinem Fall mit Restalkohol oder gar Tabak den Tempel zu betreten, und versprach, mich herumzuführen. Er lädt mich nun nach dem Gottesdienst ein, am gemeinsamen Mittagessen teilzunehmen. Leckeres, indisches Essen und eine ältere Frau, die mich bittet, neben ihr Platz zu nehmen – wer kann da schon „Nein“ sagen. Während des Essens sitzen alle als Zeichen der Gleichheit auf dem Fußboden.

Das Essen bei den Sikhs © Anika Schwalbe

Und schon nach ein paar Minuten erhalte ich ein Tablett mit verschiedenen warmen Speisen und dazu einen silbernen Becher mit einer Art Yogi-Tee. Neben paniertem Blumenkohl, zu dem eine scharfe bräunlich-rote Soße gereicht wird, finde ich auch Naan-Brot, Curry, Milchreis und zwei „Kugeln“. Die eine sieht aus, als wäre sie in Sirup eingelegt und die andere ist eher trocken und gelblich. Ich probiere sie erst einmal ohne Soße. Glücklicherweise, denn die beiden Kugeln schmecken süßlich. Das Tablett wird so lang aufgefüllt, bis man deutlich zeigt, satt zu sein.

Als ich ein Mädchen frage, was alles auf meinem Tablett liegt, erklärt sie mir einiges, macht kurz eine Pause und sagt: „Die Soße ist Gewürzketchup“. „Was?“, denke ich mir. Naja, aber es schmeckt und wer hätte gedacht, dass die Sikhs trotz ihrer mundenden Speisen deutsches Gewürzketchup mögen. Nach 5 Stunden ganz weit weg in Hamburg verabschiede ich mich, lasse mein orangefarbenes Tuch im Vorraum liegen und gehe mit der Gewissheit, nicht das letzte Mal da gewesen zu sein. Aber das erste und letzte Mal ohne mein eigenes Tuch.