Wochenrückblick

KW 47/10 – Schweizer Volksabstimmung, „muslimische“ Jugendkriminalität, Hartz-IV-Ausländer, Terrorangst-Analysen

Die Themen der 47. Kalenderwoche: Die Schweiz schafft aus; Zur Kriminalität muslimischer Jugendlicher: Ministerin Schröder und ihr Experte sind sich nicht ganz einig; Ausländische Hartz-IV-Empfänger; Terrorangst – Analysen

Die Schweiz schafft aus
Die Volksabstimmung am 28. November richtet einige Aufmerksamkeit erneut auf die Schweiz. Ungeachtet der Aufenthaltsdauer und der sonstigen Lebensumstände und der Strafhöhe – wer als Ausländer straffällig wird, soll ausgewiesen und mit einem Rückkehrverbot belegt werden.

Die „Schweiz vergrault Investoren“ titelt die Financial Times Germany und bewertet das Vorhaben der Schweizer Ausschaffungsinitiative als Rufschädigung.

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Die Wirtschaft ist besorgt. In einer Studie der Berater Booz & Company über den Industriestandort Schweiz wurde deutlich, dass für die Firmenverantwortlichen die Personenfreizügigkeit und die Offenheit der Volkswirtschaft entscheidende Standortfaktoren sind. „Die Schweiz bietet mit ihrer Offenheit gegenüber dem Ausland und dem Pool an talentierten Mitarbeitern gute Rahmenbedingungen für die Industrie“, sagte Yves Serra, Präsident der Konzernleitung des Schaffhauser Maschinenbauers Georg Fischer, diese Woche auf einer Veranstaltung in Zürich. „Die Ausschaffungsinitiative ist da nicht gerade förderlich für das Ansehen des Landes.“

Der Standard (Österreich) fasst zusammen, was die Gegner der Ausschaffungsinitiative vorzubringen haben:

Die Gegner des Begehrens sprechen von Willkür: Einerseits sei dieser Deliktkatalog willkürlich, beispielsweise fielen schwere Fälle von Steuerbetrug oder Wirtschaftskriminalität nicht darunter; hingegen drohten einem Einbrecher, der eine Stange Zigaretten klaue, oder einer Putzfrau, die schwarz arbeite, die Abschiebung. „Ein so großes Ungleichgewicht kann in einem Rechtssystem nicht sein“, sagte Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf in einem Interview in der Neuen Zürcher Zeitung.

Die Regierung stellt deshalb einen Gegenvorschlag zur Abstimmung, der etwas weniger willkürlich ausgestaltet wäre und der ihrer Ansicht nach völkerrechtskonform umgesetzt werden könnte. Doch auch dieser Gegenvorschlag ist umstritten: Sozialdemokraten und Grüne lehnen beide Vorschläge ab, da sie darin eine grundsätzliche Diskriminierung sehen. Denn während ein Schweizer Delinquent nach verbüßter Strafe im Lande bleiben kann, wird ein Ausländer mit der Ausschaffung noch zusätzlich bestraft.

Zur Kriminalität muslimischer Jugendlicher: Ministerin Schröder und ihr Experte sind sich nicht ganz einig

Dem Wiesbadener Kurier gab Kristina Schröder, Familienministerin, ein Interview.

„Die Gewaltbereitschaft unter jungen, männlichen Muslimen ist deutlich höher als bei nichtmuslimischen einheimischen Jugendlichen“, so die CDU-Politikerin … Es gehe darum, sich bei vermeintlichen Kränkungen der eigenen Ehre auch mit Gewalt zu verteidigen. „Soziale Benachteiligung und Diskriminierung sind wichtige Faktoren, reichen aber nicht als Erklärung“, sagte Schröder. „Es gibt einen Zusammenhang zwischen Religiosität, Machonormen und Gewaltgeneigtheit.“

Die Ministerin beauftragte Experten, den Beleg für diese Behauptungen zu liefern und lud sie zur Pressekonferenz ein. Das Resultat dürfte sie nicht ganz befriedigen. Der Dortmunder Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak zum Beispiel erwies sich als skeptisch (nachzulesen auf spiegel online):

Schröders Auffassung zum Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewalttätigkeit teilte Toprak nur „bedingt“. „Religion und Männlichkeit werden dann interessant, wenn die soziale Lage prekär ist“, sagte er. Männlichkeitskonzepte oder Religion dienten als Identifikationsanker und könnten auch zur Gewalt führen – „aber nicht zwangsläufig“.

Wird sich die Ministerin über dieses Thema künftig ebenso differenziert äußern?

Ausländische Hartz-IV-Empfänger
Einen Blick wert ist der Bericht der BILD-Zeitung über die Anteile verschiedener Nationalitäten an den Hartz-IV-Empfängern. Die Verteilung ist an sich hochinteressant und würde eine differenzierte Beurteilung erleichtern, wenn BILD nicht etwas Wesentliches unterschlagen hätte … Doch zunächst einmal gibt es einige sachlich gute und faire Erläuterungen.

An der Spitze stehen die Libanesen mit 90%. Von den knapp 40 000 Libanesen in Deutschland leben über 33 000 vom Sozialtransfer. BILD selbst erlaubt es einem Soziologen, das zu erklären:

Soziologe Prof. Christian Pfeiffer: „Viele Libanesen etwa waren zu Beginn Asylbewerber und durften nicht arbeiten. Dieser Lebensstil hat sich von Generation zu Generation durchgesetzt. Das Bildungsniveau ist extrem niedrig, Kinder gelten als Einkommensquelle, gearbeitet wird höchstens schwarz. Gerade die Libanesen haben sich oft in dieser Armutslage eingerichtet.“

Auch dass Sozialtransfer nicht unbedingt bedeutet, die Personen würden nicht arbeiten, wird gesagt:

Viele arbeiten in Branchen mit niedrigem Lohnniveau (z. B. Gastgewerbe, Reinigungsdienste, Altenpflege). Oft reicht das Einkommen nicht aus, um die Familie zu ernähren, sie müssen ihren Lohn mit Hartz IV aufstocken.

Bemerkenswert ist dieses Zugeständnis:

Herbert Brücker, Institut IAB: „Es gibt Diskriminierung am Arbeitsmarkt. Ausländer werden oft gar nicht erst eingestellt oder werden bei Krisen zuerst entlassen.“

Es bleibt zu hoffen, dass die Leser nicht nur die Statistik angeschaut, sondern auch die erhellenden Erläuterungen dazu gelesen – und verdaut haben.

Was aber irreführend an den BILD-Zahlen ist, kann man im BILDblog nachlesen:

Das hätte „Bild“ auch wissen müssen: Die Bundesagentur für Arbeit hatte für das Blatt eigens eine Sonderauswertung gemacht, in der die Gesamtzahl der Ausländer noch nach Erwerbsfähigen und nicht Erwerbsfähigen aufgeschlüsselt war — doch die Zeitung rechnete einfach mit der (natürlich höheren) Gesamtzahl weiter und liefert so eine sehr einseitige Statistik. An wirklichen Erklärungen scheint die Redaktion jedenfalls bedeutend weniger Interesse als an der riesigen Schlagzeile gehabt zu haben.

Von den knapp 40 000 Libanesen sind zum Beispiel ca. 6 500 Kinder … 9 200 Libanesen sind als nicht erwerbsfähig ausgewiesen; zu jung, zu krank, zu alt. BILD rechnet sie einfach ein.

Terrorangst – Analysen
Zu den Terrorwarnungen und der Angstmache in einigen Medien melden sich Michel Friedmann und Heribert Prantl zu Wort.

Michel Friedmann fragt in der Welt, ob man nicht eher Angst vor der Angstmacherei haben müsse.

Angst ist immer irrational hat schon Sigmund Freud festgestellt. Aber auch traumatisch. Sie zu überwinden, ist anstrengend. Setzt denken und argumentieren voraus. Wissen und Einordnung dieses Wissens. Je diffuser die Sachverhalte, desto verlorener bleibt der Ängstliche zurück und alleine. Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus, die immer nur durch vernebelte oder allgemeine Warnungen formuliert wird, lässt den Bürger hilflos zurück. Ihm wird gesagt, Konkretes könne oder wolle man ihm nicht sagen. Genau damit wird aber Angst erneut gesteigert. Dies ist gefährlich und kontraproduktiv. Der Teufelskreis zwischen Aufklärung und Geheimhaltung führt also zu einem irrationalen Umgang mit dem Gefühl der Angst. Das wiederum macht mir furchtbar Angst.

Heribert Prantl stellt in der Süddeutschen fest, dass es nicht die Aufgabe der Journalisten sei, mitzuteilen, was mitzuteilen ist – aber auch auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass Windmacher hinter den Informationen stehen. Insgesamt kommt er zu einer recht optimistischen Einschätzung:

Die Bevölkerung reagiert erstaunlich gelassen. Sie reagiert mit Sorge, aber nicht mit Panik auf die Terrorwarnung des Bundesinnenministers und auf deren mediale Aufbereitung; es ist dies eine ähnlich verhaltene Reaktion, wie man sie schon bei der Finanzkrise hatte beobachten können. Die Deutschen beginnen, das Vorurteil zu widerlegen, dass sie mit Krisen nicht umgehen können. Und die Politik beginnt, eine Grundthese der Kommunikationswissenschaft zu widerlegen, welche lautet: „Die Medien haben der Politik ihre Regeln aufgezwungen.“ Bundesinnenminister Thomas de Maizière jedenfalls hat sich bisher den Versuchungen entzogen, denen seine Vorgänger erlagen: Er hat seine Terrorwarnung nicht mit der Ankündigung von Gesetzespaketen verbunden; er hat den medialen Verstärkerkreislauf kaum bedient.

In der Wochenend-Beilage der Süddeutschen (nicht online!) zeigt Heribert Prantl, was zu tun ist:

„Das Einzige, wovor wir Angst haben müssen, ist die Angst selbst, weil sie sämtliche Anstrengungen lähmt, die nötig wären, den Rückschritt in Fortschritt zu verwandeln.“ Der Ratschlag stammt vom früheren US-Präsidenten Franklin Roosevelt. Und welche Anstrengungen wären nötig? … Es wäre nötig, den Islam und die Muslime als Bündnisgenossen gegen den gewalttätigen islamistischen Fundamentalismus zu gewinnen, um dann dem Terror gemeinsam entgegenzutreten.

Es gebe gefährliche und ungefährliche Methoden, mit Ängsten fertig zu werden. Die einen bemühen „machiavellistisch“ den Teufel und den Todfeind, um die Angst nach außen abzulenken. Aber es gebe klügere Methoden:

Miteinander reden über die Riten und Zeremonien, die uns wichtig sind. Miteinander reden aber auch über die existenziellen und alltäglichen Ängste und Sorgen, die uns bewegen … Und das beste Mittel gegen Fanatismus ist der Dialog der Menschen, die in verschiedenen Kulturen und Religionen zu Hause sind. … Miteinander suchen, Gemeinsamkeiten finden: Das ist ein bisher gescheitertes Projekt … Ein gemeinsamer Aufstand der Religionen gegen einen anmaßenden Terrorismus, der im Namen Gottes auftritt – es wäre ein Megaprojekt zur Befreiung von Angst.