Wochenrückblick

KW 45/2010 – Dänische Pest, Antisemitismus und Anti-Islamismus, liberaler Islam, Tezcan, Multikulti – und ein Eingeständnis

Die Themen der 45. Kalenderwoche: Die „dänische Pest“; „Die Antisemiten von damals sind die Anti-Islamisten von heute“; Antwort auf eine Morddrohung; Lamya Kaddor contra Necla Kelek; Ein türkischer Botschafter wird undiplomatisch; Multikulti lebt; CDU-Poliker gibt zu: Wir wollten früher gar keine Integration der Ausländer

Die „dänische Pest“
Hannes Gamillscheg spricht in einem Leitartikel der FR von der „dänischen Pest“.

Es gab mal ein kleines Land im Norden Europas, das wegen seiner Menschenfreundlichkeit und liberalen Grundhaltung stolz, bekannt und beliebt war und ein Vorbild für andere. Das Land war Dänemark. Jetzt machen die Dänen mit Fremdenfeindlichkeit Schlagzeilen und mit Europas härtesten Einwanderungsregeln, die ein Hohn liberaler Denkweise sind. Vorbild sind sie damit immer noch, wenn auch die, die ihnen Beifall klatschen, jetzt aus dem anderen Lager kommen. „Das, was wir jetzt beschließen, wird bald auch anderen Ländern als Maßstab dienen“, rühmt sich die dänische Rechte, und die Erfahrung lehrt, dass dies wohl so kommen wird.

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Der Autor bringt Beispiele und stellt dann fest: In Dänemark sei inzwischen das Klima vergiftet wie in keinem anderen Land, selbst Deutschland nach Sarrazin sei dagegen noch harmlos. (Persönliche Anmerkung: Ich bin noch selten beim Lesen eines Artikels so bestürzt gewesen wie bei diesem.)

„Die Antisemiten von damals sind die Anti-Islamisten von heute“
Der Förderverein zur Geschichte des Judentums im Vogelsberg lädt Micha Brumlik anlässlich des Pogrom-Gedenkens am 9. November zum Vortrag. Brumlik erläutert zunächst die historischen Formen und Hintergründe des Antisemitismus. Dann vergleicht er ihn mit der Islamfeindschaft von heute:

„Die Antisemiten von damals sind die Antiislamisten von heute“, so Micha Brumlik später in der Diskussion. „Wovor haben die Menschen Angst“, fragt sich Brumlik, wenn Studien belegen, dass genau dort, wo am wenigsten Moslems wohnen, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern oder Erfurt – oder, wie in der anschließenden Diskussion deutlich wurde, auch im Vogelsberg – die antiislamische Stimmung am größten ist. Dort, wo keiner die „Lasten der Integration“ tragen muss, dort aber auch, wo die Arbeitslosigkeit und die Unzufriedenheit hoch sind, genauso wie die Angst, etwas weggenommen zu bekommen. Dort braucht man einen Sündenbock. Ghettoisierung sieht Brumlik als Konsequenz dieser Angst, das Auslagern von Menschen, die nicht ins Bild passen: Migranten, auch aus Russland oder Polen, sozial Schwache, Moslems.

Antwort auf eine Morddrohung
Kübra Yücel, 22 und Muslima, schreibt eine wöchentliche Kolumne für die taz. Kürzlich hat sie ihre erste Morddrohung bekommen. Wie reagiert man auf so etwas?

Mit Humor. Sie beschreibt zum Beispiel einige Fälle von „Zwangsislamisierung“:

Unauffällige Bürger Deutschlands, die sich bis dato nie mit Religion oder dem Islam beschäftigt hatten, bekommen plötzlich ein „Muslim“-Etikett verpasst. Zack! Zum Beispiel meine atheistische iranische Freundin, die von vielen Deutschen pauschal unter der Kategorie „Muslimin“ geführt wird. Deswegen muss sie ihnen gegenüber ihre Partygänge und ihren Alkoholkonsum verteidigen. Oder ein türkischer laizistischer Bekannter, dem kein Schweinefleisch mehr angeboten wird. Die beiden wurden quasi zwangsislamisiert und hocken nun in einem Boot mit praktizierenden Muslimen. Und wie viele andere müssen nun auch sie geradestehen für eine Religion, die sie weder kennen noch kennen wollen.

Lamya Kaddor contra Necla Kelek
Lamya Kaddor erläutert in einem Interview in der WELT am Sonntag, wie sie zwischen zwei Fronten zu kämpfen hat – den „Islamkritikern“ und den Islamisten. Beide Seiten werfen ihr vor, keine richtige Muslima zu sein. Sie wehrt sich gegen Fundamentalisten, die den Islam für sich zu vereinnahmen versuchen und für die das Verbot, Schweinefleisch zu essen genauso wichtig zu sein scheint wie das Verbot zu töten. Auf der anderen Seite knüpft sie sich die „Islamkritiker“ vor. Necla Kelek beispielsweise habe

den Boden einer seriösen, geschweige denn wissenschaftlich fundierten Islamkritik längst verlassen. … Ich zitiere mal eine Aussage von ihr: „Der muslimische Mann muss ständig der Sexualität nachgehen. Er muss sich entleeren, heißt es, und wenn er keine Frau findet, dann eben ein Tier… Das hat sich im Volk durchgesetzt, das ist Konsens“. … Das ist jenseits von Gut und Böse! Abgesehen davon gilt Sodomie im Islam als streng verboten. Es ist doch nicht jeder Mann unter 1,3 Milliarden Muslimen weltweit ein Sodomit! Ich halte es für ein falsches Signal, dass dieser „Mut“ nun mit einem Preis belohnt wird. Leider wird hierzulande zu oft die legitime Kritik an Muslimen mit Diffamierung verwechselt. … Leute wie Frau Kelek behaupten, das „System Islam“ schlechthin sei die Ursache für solche Probleme. Entweder man ist anständig oder muslimisch – darauf läuft Frau Keleks Islamkritik meiner Meinung nach hinaus. Wie sollen Muslime das noch als konstruktiv empfinden?

Ein türkischer Botschafter wird undiplomatisch
In Wien hat der türkische Botschafter der Zeitung Die Presse ein langes Interview gegeben, das hohe dort hohe Wellen geschlagen hat. Über die Frage, wie weit Botschafter Tezcan Recht hat, hinaus gibt es Kritik daran, dass ein Botschafter so nicht über das Land sprechen darf, in dem er akkreditiert ist.

Tezcan kommt auch auf Angela Merkel zu sprechen, nachdem er sich zunächst Maria Fekter, die Österreichische Innenministerin, vorgenommen hat:

Sie ist Mitglied einer Volkspartei, die sich als liberal versteht. Oder bin ich falsch informiert? Was sie vertritt, entspricht nicht einer liberalen, offenen Geisteshaltung. Das Gleiche gilt übrigens auch für Angela Merkel. Ich war so überrascht, als sie vor zwei Wochen sagte, Multikulturalismus habe versagt und Deutschland sei eine christliche Gesellschaft. Was für eine Mentalität ist das? Ich kann nicht glauben, dass ich das im Jahr 2010 in Europa hören muss, das angeblich das Zentrum der Toleranz und Menschenrechte ist. Diese Werte haben andere von euch gelernt, und jetzt kehrt ihr diesen Werten den Rücken. Trotzdem will ich nicht sagen, dass die Migranten keine Fehler gemacht haben.

Es gibt zu diesem verblüffend scharfen Interview inzwischen eine Fülle von Stellungnahmen, vor allem natürlich in der PRESSE selbst.

Multikulti lebt
Claus Leggewie, der vor 20 Jahren den Begriff importiert hat, beschreibt in der SZ, was mit Multikulti gemeint war:

Auch wenn derzeit aus allen Rohren geschossen wird: Multikulti lebt und wird auch noch gewinnen.

Wer die frühen Plädoyers und viele nachfolgende Studien gelesen hat, weiß, dass niemand Beliebigkeit oder die Scharia gefördert, sondern die republikanische Integration der Verschiedenheit gefordert hat.

Dazu zählten unter anderem die Abkehr von einem völlig antiquierten Staatsangehörigkeitsrecht, eine zukunftsfeste Arbeits- und Sozialpolitik, die Gewährung der im Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit und natürlich Bildungsanstrengungen aller Art. Die Probleme, die heute unter den Stichwörtern Parallelgesellschaft und Schulversagen notiert werden, wurden von den Befürwortern von Multikulti ziemlich genau vorhergesagt. Sie waren die wirklichen Realisten.

Und es seien grade Kohl und die Konservativen gewesen, die die Parallelgesellschaft und das Nebeneinanderher gefördert hätten – weil sie sich eingebildet hätten, die Gastarbeiter würden ja doch bald wieder ab in die Heimat ziehen.

CDU-Poliker gibt zu: Wir wollten früher gar keine Integration der Ausländer.
Christoph Ahlhaus (CDU) regiert als Erster Bürgermeister Hamburg. In einem Interview mit dem Tagespiegel nimmt er ungewöhnlich offen Stellung zum Versagen der Nicht-Integrationspolitik auch seiner Partei in der Vergangenheit:

Jeder weiß, dass das Zuwanderungsrecht in Deutschland in der Praxis gescheitert ist. Wir wollten lange Zeit nicht akzeptieren, dass es tatsächlich Zuwanderung nach Deutschland gibt, haben uns aber bereit erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen einen Gaststatus ohne Arbeitserlaubnis und Integrationshilfen zu geben. Dahinter stand das Grundverständnis unseres Ausländerrechts: Die sollen sich gar nicht integrieren, denn sie sind nur Gast und sollen auch bald wieder gehen. …

Wie sieht das Konzept der Zukunft aus?

Wir müssen uns dazu bekennen, dass wir Zuwanderung nach legitimen nationalen Interessen unseres Landes qualitativ und quantitativ steuern wollen. Wir müssen künftig selbst bestimmen, wen wir wollen und wem wir die Integration zutrauen. Das bedeutet aber auch, dass wir denjenigen, die wir für integrationsfähig und -willig halten, von Anfang an alle Unterstützung bei der Integration bieten, im Erfolgsfall bis zur Einbürgerung. Andererseits muss klar sein: Wer sich am Ende trotz aller Integrationsbemühungen des Staates nicht integrieren will, dem müssen wir schneller als bisher klar machen, dass er hier nicht dauerhaft leben kann. So gehen viele Länder der Welt mit Zuwanderung um, und so müssen auch wir es tun.

Ob die CDU ihre eigene Wählerschaft auf diesen Weg mitnehmen können wird? Sarrazin hat das schwerer gemacht. Aber eine realistische Alternative dazu hat er nicht zu bieten.