Bildungsstudie

Lehrer mit Migrationshintergrund sind von unschätzbarem Wert

Erstmals wurde das Selbstverständnis von Lehrkräften mit Migrationshintergrund untersucht: Welche Diskriminierungserfahrungen werden gemacht? Welche Berufsmotivationen sind erkennbar? Wie wurden Studium und Referendariat erlebt, welche Erfahrungen prägen den Schulalltag?

Unter der Leitung von Prof. Dr. Viola B. Georgi hat der Arbeitsbereich Interkulturelle Erziehungswissenschaft der Freien Universität Berlin im Frühjahr 2010 eine Fragebogenerhebung mit 200 Lehrenden und 60 biografische Interviews durchgeführt.

„Die schnell wachsende Zahl von Schülern sprachlich und kulturell unterschiedlicher Herkunft in Deutschland findet in der Lehrerschaft bisher keine Entsprechung. Studien aus klassischen Einwanderungsländern legen aber nahe, dass Lehrende mit Migrationshintergrund zur Gestaltung von interkulturell orientierten Bildungsprozessen beitragen können und überdies als Rollenvorbilder dienen. Eine Erhöhung des Anteils an Lehrenden mit Migrationshintergrund erscheint als ein Schlüssel für mehr Integration, Teilhabe und Schulerfolg von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund, weshalb die Rolle dieser Lehrkräfte in der politischen Debatte zunehmend wichtig wird“, so die Forscher.

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Info: Am 24. September 2010 laden die Heinrich Böll Stiftung, die Freie Universität und die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius in Berlin zur Diskussion der Ergebnisse der Studie im Rahmen der Konferenz „Vom multikulturellen Klassenzimmer zum multikulturellen Lehrerzimmer“ ein.

Schlüssel zur interkulturellen Schulentwicklung
In der Studie „Lehrende mit Migrationshintergrund in Deutschland: Eine empirische Untersuchung zu Bildungsbiographien, professionellem Selbstverständnis und schulischer Integration“ werden Befunde und Erwartungen aufgegriffen und einer qualitativen und quantitativen empirischen Überprüfung unterzogen. „Die Ergebnisse“, resümiert Viola B. Georgi, „zeigen, dass Lehrende mit Migrationshintergrund ein Schlüssel zur interkulturellen Schulentwicklung in Deutschland sind, aber nicht zum Allheilmittel gesellschaftlicher Integration taugen. Neben der gezielten Werbung und Rekrutierung von Lehrenden mit Zuwanderungsbiographie bedarf es flankierender Maßnahmen, etwa in der Lehreraus- und Weiterbildung, die Schule und ihre Akteure angemessen auf den Umgang mit Heterogenität vorzubereiten.“

Familienorientierung wirkt sich positiv auf den Bildungserfolg aus
Laut Studie stammt der überwiegende Teil der befragten Lehrkräfte aus Familien von Einwandern, die im Zuge der Anwerbung von Arbeitsmigranten in den 50er und 60er Jahren oder in Folge der Familienzusammenführung nach Deutschland kamen. Obwohl die Elterngeneration zumeist nur über eine geringe formale Bildung verfügt, bescheinigen die Befragten ihren Familien eine Form der emotionalen und moralischen Unterstützung, die sie als unabdingbare Voraussetzung für den eigenen Bildungserfolg charakterisieren. In einer Vielzahl der untersuchten Fälle waren die Eltern in der Lage, ihren Kindern eine positive Haltung zur Bildung sowie ein gesellschaftliches Aufstiegsversprechen zu vermitteln.

Bewusster Umgang mit sprachlicher und kultureller Differenz
Die befragten Lehrerinnen und Lehrer sind aufgrund ihres Migrationshintergrundes mit Themen kultureller Differenz und Dominanz lebensgeschichtlich befasst, wie die Studie ergab. Daraus resultiert offenbar ein bewusster Umgang mit sprachlicher und kultureller Heterogenität in der Schule. Knapp 78 Prozent der Befragten geben an, dass sie bewusst mit der sprachlichen und kulturellen Differenz innerhalb der Schülerschaft umgehen, etwa 67 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu: „Ich sorge dafür, dass kulturelle und sprachliche Unterschiede an unserer Schule als Bereicherung erlebt werden“.

„Du musst in der Schule schon mit mir Deutsch sprechen!“
Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass Lehrende mit Migrationshintergrund für gelebte sprachliche Vielfalt in der Schule stehen. Dennoch bringen sie ihre Herkunftssprachen im Unterricht eher selten zum Einsatz. Ein Großteil der Lehrenden verweist und verpflichtet ihre migrantischen Schülerinnen und Schüler den Ergebnissen zufolge auf die deutsche Sprache als Schulsprache.

Außerhalb des Unterrichts besteht allerdings durchaus Bereitschaft, die Herkunftssprachen in der Kommunikation mit Schülern und Schülerinnen sowie Eltern vielfältig einzusetzen. Die Fähigkeit zur Kommunikation in den Herkunftssprachen der Schüler und Schülerinnen werden von den Befragten als Ressource beschrieben – etwa als Möglichkeit zur Förderung, zur Anerkennung und als Grundlage für den Aufbau von Vertrauen.

Ein besonderes Vertrauensverhältnis
So lässt sich ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Lehrenden mit Migrationshintergrund und Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund ausmachen. Dieses Vertrauensverhältnis basiert auf tatsächlich geteilten migrationsspezifischen Erfahrungen sowie sprachlich-kulturellen Gemeinsamkeiten oder auf der wechselseitigen Annahme von Gemeinsamkeiten aufgrund eines ähnlichen Migrationshintergrundes.

In der quantitativen Befragung stimmen 64,6 Prozent der Befragten der Aussage „Es wird mir von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund mehr Vertrauen entgegengebracht als Lehrpersonen ohne Migrationshintergrund“ zu, und knapp 68 Prozent der Befragten geben an, dass ihr Migrationshintergrund für die Schüler und Schülerinnen nichtdeutscher Herkunft von großer Bedeutung sei.

Engagement für den Bildungserfolg von Migranten in der Schule
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass Lehrenden mit Zuwanderungsbiographie es ein Anliegen ist, das Selbstvertrauen von Kindern und Jugendlichen aus Familien von Einwandern zu stärken und die besonderen Lernbedingungen dieser Schülerinnen und Schüler anzuerkennen.

Rund 71 Prozent der Befragten gaben in den Befragungen an, in ihrem Unterricht besondere Rücksicht auf Lernende mit Migrationshintergrund zu nehmen. 68 Prozent versicherten, sich besonders für den Bildungserfolg von Kindern aus Familien von Einwanderern zu engagieren, 78,3 Prozent antworteten, dass sie das Selbstbewusstsein ihrer migrantischen Schüler und Schülerinnen stärkten.

Lehrende mit Zuwanderer-Biographie als „Sozialarbeiter“
Daher übernehmen die befragten Lehrkräfte der Studie zufolge häufig von Sozialarbeit und Psychologie geprägte Aufgaben in der Schule, insbesondere wenn es um Unterstützung von Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in schwierigen Lebenssituationen geht. Dabei handelt es sich in der Regel um Hilfeleistungen bei Familienkonflikten, für die es kulturspezifischen Wissens und kulturspezifischer Sensibilität bedarf.

Lehrende mit Migrationshintergrund erscheinen deshalb prädestiniert für die Übernahme von Aufgaben mit Kultur-, Religions- und Sozialarbeitsbezug, die sie auch mit großer Bereitschaft übernehmen. Zugleich wird in den Interviews aber auch deutlich, dass sie dabei an ihre professionellen und persönlichen Grenzen stoßen. In Konsequenz weisen einige der Lehrenden die ihnen häufig zufallende oder zugeschriebene Rolle des „Sozialarbeiters“ auch zurück.

Guter Draht zu den Eltern
Die logische Folge ist, dass Lehrende mit Migrationshintergrund einen guten Draht zu Eltern haben – unabhängig von deren national-kulturellen, ethnischen, religiösen oder sprachlichen Hintergründen, wie die Studie ergab.

Der Aussage: „Ich finde leicht Zugang zu Eltern, die einen anderen national-kulturellen Hintergrund haben als ich selbst“ stimmten 72,7 Prozent der Befragten zu. 67,2 Prozent gaben an, dass Eltern mit Migrationshintergrund sich mit ihnen identifizieren, weshalb wohl auch 60 Prozent der Lehrkräfte davon ausgehen, dass sie die elterlichen Erwartungen der Familien von Einwandern erfüllen.

Migrantische Lehrkräfte als Rollenvorbilder
Auch gehen die befragten Lehrkräfte den Ergebnissen zufolge sehr differenziert mit der Vorbildrolle um. Während sich der größte Teil als Rollenvorbild präsentiert und die häufig zugeschriebene Vorbildfunktion empathisch bejaht und auszufüllen sucht, tut sich ein Teil der Befragten durchaus auch schwer damit, die Herausforderung als Vorbild oder Mentor anzunehmen. Die befragten Lehrkräfte mit Migrationshintergrund erleben also sehr bewusst, dass sie als Rollenvorbilder angesehen werden und dass in diesem Zusammenhang auch hohe Erwartungen an sie gestellt werden.

Akzeptanz, Anerkennung und Wertschätzung
Nicht überrascht daher, dass Lehrpersonen mit Zuwanderungsbiographie im Kollegium viel Akzeptanz, Anerkennung und Wertschätzung erfahren. Dieses aus den Ergebnissen der Studie abgeleitete Bild, lässt sich durch die quantitativen Befunde unterstreichen, denn 72,7 Prozent der Befragten stimmten der Aussage „Ich fühle mich im Kollegium anerkannt“ zu. Darüber hinaus äußerten sich 71,3 Prozent der Befragten positiv über den Austausch mit den Kollegen und Kolleginnen an ihrer Schule.

Allerdings fühlen sich 8,6 Prozent der Befragten im Kollegium nicht anerkannt, und immerhin acht Prozent der Lehrenden mit Migrationshintergrund bewerteten den Austausch mit Kollegen und Kolleginnen als unbefriedigend. Knapp 70 Prozent wünschten sich im Kollegium mehr Kompetenz im Umgang mit Vielfalt.

Diskriminierungserfahrungen keine Seltenheit
Was Erfahrungen von Diskriminierung in der eigenen Bildungslaufbahn angeht, nehmen in vielen Erzählungen von Lehrenden mit Migrationshintergrund eine zentrale Rolle ein und werden häufig als einschneidende Erlebnisse, als Wendepunkte in der Selbstwahrnehmung und als Motivation für politisches Engagement beschrieben.

Die Befunde der Studie zeigen, dass die Befragten in unterschiedlicher Ausprägung, Akzentuierung und Intensität und zumeist im Lehrerzimmer weiterhin Diskriminierung erleben, und zwar in allen in der Studie untersuchten Diskriminierungsformen im Kontext Schule. – Dazu gehören: Diskriminierung auf Grund phänotypischer Merkmale, aufgrund des ethnisch-kulturellen Hintergrundes, aufgrund von Sprache (Sprachbeherrschung, Akzent), aufgrund von Religionszugehörigkeit (insbesondere islamfeindliche Erfahrungen) sowie strukturelle oder institutionelle Diskriminierung.

Auch im Rahmen der quantitativen Untersuchung wurden Diskriminierungserfahrungen von Lehrenden mit Migrationshintergrund in unterschiedlichen Lebensphasen abgefragt. Hier gaben 29 Prozent an, in der eigenen Schulzeit in Deutschland benachteiligende oder diskriminierende Erfahrungen gemacht zu haben. Im Studium liegt diese Zahl bei 13 Prozent, im Referendariat bei 23 Prozent und in der schulischen Praxis geben 22,5 Prozent der Lehrenden an, diskriminierende Erfahrungen zu machen.