Der Nationalstaat und seine Einwanderer

Was die Deutschen für die Integrationsdebatte aus ihrer Geschichte lernen können

Seit Anfang des 21. Jahrhunderts findet in Deutschland ein Umdenken statt: Die zahlreichen hier lebenden Menschen nichtdeutscher Herkunft werden endlich als Einwanderer begriffen. Seitdem wird unter dem Begriff Integration eine Staats- und Gesellschaftspolitik verfolgt, die diese Einwanderung zu gestalten versucht.

Gleichzeitig vollzieht sich ein anderer Paradigmenwechsel: Mit der deutschen Einheit entstand mitten in Europa ein Nationalstaat Deutschland, der sich immer stärker von der alten Bundesrepublik unterscheidet. Das hat nur bedingt mit der Eingliederung Ostdeutschlands zu tun, vielmehr gibt es ein verändertes Gefühl für die eigene Identität. Man konfrontiert die heikle deutsche Geschichte zunehmend mit der Gegenwart, einzelne Kapitel aus dem Geschichtsbuch Deutschland werden umsortiert und neu gewichtet.

Selbsterfahrungsthemen haben Konjunktur. Mit der Erinnerung an die Vertreibung, die Bombenopfer im Zweiten Weltkrieg und die Vergewaltigung deutscher Frauen durch Besatzungssoldaten findet eine Aufarbeitung deutschen Schmerzes statt. Gleichzeitig wird die Gegenwart eher als fröhliche, lockere Unternehmung inszeniert: Seht her, wir können feiern, haben Humor und ein modernes, weltoffenes Staatssystem. Deutschland kann sich sehen lassen in der Welt. Identität wird zur Marke, für die man gerne wirbt, die sich auch plakativ verwenden lässt.

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Wie aber hängen Geschichte und Gegenwart heute zusammen? Wie viel Vergessen, wie viel Erinnern braucht die deutsche Gegenwart? Bezeichnenderweise tauchen Fragen der deutschen Geschichte und zur veränderten Selbstwahrnehmung bei der Einwanderungsfrage nicht einmal am Rande auf. Denn die verkrusteten Wunden der Nation drohen wieder aufzureißen, wenn man die Historie mit den gegenwärtigen Herausforderungen konfrontiert, die aus der Einwanderung resultieren. So entsteht ein merkwürdiges Schweigen, ja oft auch eine strikte Ablehnung, wenn man die deutsche Geschichte und die türkische Zukunft des Landes in Zusammenhang bringt. Türkische Zukunft ist ein Bedrohungsszenario, gewinnt darin doch eine Minderheit an Bedeutung, die sich im Lande etabliert hat.

Und wie wird heute aus einem Türken ein Deutscher? Es lohnt sich, sowohl für Einheimische als auch für Einwanderer, dafür jene Kapitel in der Geschichte Deutschlands aufzuschlagen, in denen es um die polnische Einwanderung im 19. Jahrhundert geht oder um die Integration und Assimilation der Juden in der Moderne. Wie war das denn mit der polnischen Einwanderung ins deutsche Kaiserreich? Wer erinnert sich heute noch an den erbitterten Sprachenstreit, bei dem es genau wie heute mit dem Türkischen darum ging, die polnische Sprache aus der deutschen Realität auszuschließen?

In jeder Ecke stößt man hierzulande auf ein Geschichtsthema: Die traumatische Erfahrung des Nationalsozialismus, des Krieges, des Völkermords an den europäischen Juden, aber auch das Leid der deutschen Bevölkerung durch Krieg, Flucht und Vertreibung haben sich tief ins Gedächtnis eingegraben. Deshalb wirkt nichts unglaubwürdiger als ein geschichtsloses und damit gesichtsloses Deutschland. Die Einwanderungsfrage aber wird von all dem ferngehalten. Integrationsgipfel, Islamkonferenz, Debatten und Veranstaltungen zum Thema – der gesamte Politikentwurf wird so lanciert, als ginge es lediglich um die Integration Nichtdeutscher in die deutsche Gesellschaft.

Dieser Vorgehensweise liegt ein assimilatorischer Impuls zugrunde: Assimilation ist in der Tat eine der Möglichkeiten, sich in ein fremdes Land zu integrieren. Doch sie wird nicht gelingen, wenn die Prägungen aus der Geschichte von den Konferenztischen ferngehalten werden. Diese Prägungen wirken im aktiven Gedächtnis wie in den Tiefenschichten des Bewusstseins weiter. Sie schleichen sich in die Sprache ein, sie überraschen, verunsichern.

Die Sprache der Integrationsdebatten ist jedenfalls bezeichnend. Sie ist voller Fallstricke, wenn es um Identitätsfragen geht, um Heimat oder Loyalität. So wurde in den Debatten um die doppelte Staatsbürgerschaft immer wieder der Begriff der Loyalität bemüht, der in der wilhelminischen Epoche von konservativen Historikern und Politikern herangezogen wurde, um zu belegen, dass deutsche und jüdische Identität unvereinbar seien: Aus der Sicht des Historikers Heinrich von Treitschke war die Einheit von Staat und Volk in Gefahr. Wer sich heute gegen Doppelidentitäten sperrt, gerät in die Tradition eines nebulösen Staatsverständnisses, der den Weg der Deutschen in die Demokratie lange blockiert hat. Die Oberhoheit über das Angstpotenzial haben diese Begriffe ohnehin: Angst vor Verlust der Identität, vor Fremden, vor Unbekannten.

Oder die Arbeit der islamischen Verbände in Deutschland: Sie sollte durchaus kritisch betrachtet werden. Wenn Necla Kelek in der „FAZ“ jedoch von „alter Basarmentalität“ schreibt, mit der die Verbände glauben, „in göttlichem Auftrag mit der Regierung über die Zusammensetzung und Tagesordnung der Konferenz schachern“ zu können, werden Assoziationen geweckt, die in einer langen Tradition der Diffamierung und Stigmatisierung stehen. Würde eine Zeitung ähnliche Formulierungen erlauben, wenn es um eine andere Religionsgruppe geht?

Die Einwanderungsdebatte ist emotional aufgeladen. Dennoch haben Empfindungen keinen Platz in den Gesprächsrunden. So kann man sich nur voneinander entfremden. Wenn Deutsche sich der Zugewanderten annehmen wollen, müssen sie sich selbst mehr ins Gespräch bringen, offen und selbstkritisch. Das ist nicht immer eine fröhliche Veranstaltung, sondern auch ein schmerzhafter Prozess. Umgekehrt kann derjenige, der dauerhaft in Deutschland leben und sich in die Gesellschaft eingliedern möchte, nicht umhin, die Geschichte der anderen in den Blick zu nehmen. Dabei kommt es auch auf Empathie an. Es geht weniger um herkömmlichen Geschichtsunterricht, als um einen die Grenzen der eigenen Kultur überschreitenden Erfahrungsaustausch.

In der Geschichtsschreibung ging es oft um die Konstruktion von nationaler Identität. Moderne Geschichtswissenschaft hat sich davon zwar entfernt, aber sie riskiert nach wie vor zu wenig die vergleichende Wahrnehmung. Wir brauchen eine vergleichende Geschichtswissenschaft – ähnlich der vergleichenden Literaturwissenschaft. Dabei können auch literarische Texte mit ihren biografischen Konnotationen eine eher emotionsleere Wahrnehmung der Vergangenheit ergänzen und neue Perspektiven eröffnen. Gerade die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, die Völkermorde, Vertreibungen und nationalistischen Exzesse teilen die Europäer miteinander, die Deutschen teilen sie auch mit den Türken.

Es gibt auch Momente der Unteilbarkeit, der absoluten Einsamkeit mit der eigenen Geschichte. Hier stößt Integration an ihre Grenzen. Es sind Grenzen, die nicht zwischen Nationen, Kulturen, Religionen verlaufen, sondern die mit der Herkunft eines Menschen, seiner Biografie, seinem Stammbaum festgelegt werden. Ihr Verlauf kann sich ändern: Großvater und Großmutter bleiben Großvater und Großmutter, doch wenn die Enkel auswandern, entsteht ein neuer Blick auf die früheren Generationen. Erfahrungen, die sich in Familiengeschichten ablagern, werden mehrsprachig und vieldeutig. Das verunsichert alle, die Individuen und Einzelbiografien am liebsten zu kollektiven Identitäten bündeln möchten.

Deutsche und Türken verbindet etwas. Beide stammen aus großen Mischkulturen, die im 20. Jahrhundert gewaltsam zerschlagen wurden. Ein bitterer Erfahrungshintergrund, den man gemeinsam erörtern kann. So lassen sich Unterschiede und Ähnlichkeiten genauer benennen, jenseits der Sphäre vager Urteile und Vorurteile aufheben. An den Tischen der deutschen Integrationspolitik sollte es also nicht nur um Türken, den Islam und all das gehen, was der Durchschnittsdeutsche als fremd empfindet, sondern auch um das, was er als das Eigene wahrnimmt. Um die eigene Geschichte, den eigenen Identitätswandel. In diesem Wandel steckt nicht nur die Sehnsucht nach Anerkennung, sondern auch die Verunsicherung hinsichtlich einer Zukunft, in der nichts mehr so sein wird wie heute und hoffentlich manches anders als gestern.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 07.04.2010 – mit freundlicher Erlaubnis des Autors)