Türkische Gymnasien in Deutschland

Eine Chance und keine Gefahr!

Inzwischen hat unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Haltung zur Gründung von türkischen Gymnasien in Deutschland relativiert. Sie hat aber noch nicht „Ja“ gesagt! Die protektionistisch anmutende Haltung der Bundesregierung gegenüber Vorschläge und Forderungen der Türkei insbesondere zur deutschen Integrationspolitik scheint symptomatisch zu sein:

Die Bundesregierung muss verstehen, dass sie die Türkei für eine erfolgreiche Integrationspolitik benötigt – zumindest für eine Übergangszeit. Vor allem muss sie lernen, ihre allergisch wirkenden Vorbehalte gegenüber eine „Einmischung“ aus der Türkei abzulegen und beginnen, pragmatisch mit den Vorschlägen und Forderungen der Türkei umzugehen.

Die Gründung türkischer Gymnasien sollte daher nicht kategorisch abgelehnt werden. Vielmehr sollte die Bundesregierung überprüfen, wie sie den Vorschlag vom türkischen Ministerpräsidenten dazu nutzen kann, um eigene Ziele der deutschen Integrationspolitik durchzusetzen und zu manifestieren. Sind die Vorschläge und Forderungen aus der Türkei mit den Zielen der Bundesregierung nicht vereinbar, kann sie immer noch „Nein“ sagen.

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Die Super-Paranoia der deutschen Bevölkerung
Man kennt es schon aus der Vergangenheit, aber es wirkt auf junge Deutsch-Türken immer noch befremdlich: Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan fordert türkische Gymnasien in Deutschland, schon werden in Deutschland hektisch die Fenster zugemacht, die Jalousien heruntergezogen, die Türen abgeschlossen, die Schlösser an der Tür nacheinander abgeriegelt, die Kette an die Halterung angebracht und nicht zuletzt die Augen und Ohren zugehalten, um dann die Forderung Erdogans kategorisch abzulehnen.

Kaum ist die Druckertinte getrocknet, schon sind Fachexperten aufgelaufen, um festzustellen, dass türkische Gymnasien die Integration der Deutsch-Türken behindern würden. Ja, sie seien sogar „anti-integrativ“ und würden „Parallelgesellschaften“ fördern. Schlussendlich verbiete man sich eine Einmischung seitens der Türkei in innerdeutsche Angelegenheiten. Übertroffen werden diese Kommentare nur noch von den „Analysen“ diverser Fachleute hinter vorgehaltener Hand und im Flüsterton: Erdogan hege Expansionsgelüste.

Die bilaterale Opportunität von deutsch-türkischen Verbänden
Die Superlativen dieser Karikatur unserer eigenen Paranoia stammen aber von einigen deutsch-türkischen Verbandsvertretern und türkischstämmigen Abgeordneten in deutschen Parlamenten: Man ist beeilt, in den deutschen Medien die Paranoia begründeten Kommentare und Analysen zu bestätigen, um dann in den türkischsprachigen Medien festzustellen, dass die Forderung Erdogans keine so schlechte Idee ist und doch die Integration der in Deutschland lebenden Türken fördern könnte.

Offensichtlich sind die Interessens- und Volksvertreter dessen nicht bewusst, dass eine solche bilaterale Opportunität nicht zu einer glaubwürdigen Interessensvertretung bzw. Integrationspolitik beiträgt! Sie schadet sogar die deutsche Integrationspolitik, den interkulturellen Dialog und verstärkt das negativ-besetzte Türken-Bild in der deutschen Öffentlichkeit! Inzwischen fliegen über verschiedene Informationskanäle Pressemitteilungen, die diesen widersprüchlichen Eindruck aufheben sollen.

Ich möchte sogar behaupten, dass eine solche opportune Kommunikations- und Verhaltensstrategie die „Ängste der Deutschen“ gegenüber der Türkei und den in Deutschland lebenden Türken manifestiert. Und sollte die vordergründige Aufgabe dieser Verbandsvertreter nicht sein, eine Sachlichkeit in der deutschen Integrationsdebatte gepaart mit konstruktiven Lösungsansätzen anzustreben!? Ich weiß nicht, welche Interessen diese Verbandsvertreter meinen zu vertreten, meine Interessen vertreten sie zurzeit offensichtlich nicht.

Die Bildungs- und Arbeitsmarktsituation von in Deutschland lebenden Türken ist eine Katastrophe. Dass viele türkischstämmige Jugendliche aus bildungsfremden 1 Familien stammen, die ein großes Defizit in ihrem Wissen über das deutsche (Aus-) Bildungssystem aufweisen, ist ein harter Fakt und damit auch eine Ursache. Hier muss die deutsche Integrationspolitik ansetzen – und endlich geschieht dies auch.

Eine weitere und nicht zu unterschätzende Ursache für die Situation von türkischstämmigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist aber auch darin zu finden, dass in der deutschen Gesellschaft Vorurteile und Halbwissen über die Türken existieren, die auch zur Benachteiligung dieser Menschen auf dem Arbeitsmarkt führen. So hat jüngst ein Experiment des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) vorgeführt, dass Bewerber mit türkischen Namen gegenüber Bewerbern mit deutschem Namen bei gleicher Qualifikation häufiger abgelehnt werden.

Türkische Gymnasien in Deutschland können eine Chance für die deutsche Integrationspolitik sein
Wer auch immer unsere Bundeskanzlerin in Sachen Türkei und die Türken in Deutschland berät, sie wird falsch beraten!

Erstens – wenn das Ziel der deutschen Integrationspolitik darin besteht, dass die Türken in Deutschland stärker an der deutschen Gesellschaft partizipieren, sich mit diesem Land identifizieren und damit einhergehend ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber Deutschland entwickeln sollen, um sein Wohl anzustreben, dann muss der Stellenwert der Türkei in der deutschen Integrationspolitik und -debatte gespiegelt und berücksichtigt werden – zu mindestens für eine Übergangszeit.

Dies bedeutet nicht, dass die Bundesregierung seine Souveränität in der deutschen Integrationspolitik zugunsten der türkischen Interessenpolitik aufgeben muss. Keineswegs! Sie muss sich aber über die Wirkungskraft der Türkei, die über die Deutsch-Türken ausgestrahlt wird, bewusst werden. Es kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass in Teilen der türkischen Bevölkerung in Deutschland eine solide Türkei-Orientierung existiert. Diese Variable muss in der Integrationsformel eingebaut werden.

Daher ist eine merkantilistisch anmutende Integrationspolitik, die kategorisch Wortmeldungen, Forderungen, Empfehlungen usw. aus der Türkei aus protektionistischen Motiven heraus ablehnt, für die integrationspolitischen Ziele kontraproduktiv. Eine solche Haltung drückt die Deutsch-Türken nämlich in den Schoss der Türkei. Im Hinblick auf die Gründung eines Ministeriums für Auslandstürken wird dieses Phänomen in der Zukunft institutionalisierte Formen annehmen. Die Bundesregierung sollte dann sich nicht darüber wundern, wenn der türkische Ministerpräsident auf seinem nächsten Deutschlandbesuch in einer ausverkauften Arena wie ein Popstar gefeiert wird. Denn sie hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Kurzum: Wenn eine türkische Regierung die Einrichtung von türkischen Gymnasien vorschlägt, dann sollte diesem Vorschlag ein kategorisches „Nein!“ nicht entgegenhalten werden. Vielmehr sollte man sich fragen, wie man diese Forderung so umgestalten und umsetzen kann, dass auch deutsche Interessen transportiert und manifestiert werden können.

Ein Schwarzmarkt der Bildung
Zweitens – ich kann das kategorische „Nein!“ aus Deutschland in Richtung der Türkei nicht nachvollziehen, zumal die fehlende Integration der vergangenen 40 Jahre dazu geführt hat, dass ein beachtliches informelles Bildungssystem sich im gesellschaftlichen Hinterhof entwickelt hat, das mehr oder weniger jenseits staatlichen Gestaltungsanspruchs und staatlicher Kontrolle operiert. Die fehlende Integrationspolitik hat zu einem Vakuum im Bildungsbedürfnis der Deutsch-Türken beigetragen, das eben durch informelle Organisationen bzw. Akteure des Dritten-Sektors ausgefüllt wird. Angesichts der Passivität und Nachlässigkeit der Bundesregierung spreche ich vom großen Glück, dass die Kluft zwischen Integrationsanspruch und Integrationsrealität nicht noch größer ist.

Die Bundesregierung will Integration, lässt aber zu, dass ein Schwarzmarkt der Bildung entsteht!? Sie ist eher bereit Privatschulen und Nachhilfezentren von zum Teil dubiosen Organisationen und Initiativen zu akzeptieren als türkische Gymnasien!? Sie verzichtet den Dialog mit dem türkischen Staat, mit dem die Bundesregierung viel effizienter eine Integrationspolitik in Deutschland realisieren kann, da mit der Türkei institutionalisierte Beziehungen und Kommunikationen gepflegt werden!?

Demokratische Öffnung der Türkei
Drittens – türkische Gymnasien in Deutschland bedeuten auch eine wichtige Chance für die demokratische Öffnung der Türkei. Auch dieser Aspekt wird scheinbar gepflegt ignoriert.

Es ist unrealistisch anzunehmen, dass die Einrichtung türkischer Gymnasien in Deutschland einseitig verlaufen wird. Die deutsche Bundesregierung kann, wird und muss Bedingungen für die Gründung von türkischen Gymnasien stellen. Sie könnte an der Gestaltung des Lehrplans mitwirken und im deutschen Bildungssystem bereits etablierte Didaktik-Konzepte, die den Anspruch erheben, junge Menschen zu kritisch-konstruktiven und mündigen Bürgern zu erziehen, in das Bildungskonzept integrieren. Diese künftigen Bildungseliten werden ihre Sozialisationserfahrungen in die türkische Gesellschaft hineintragen.

Akzeptanz und Anerkennung – ein Balsam für die Seele
Und viertens – die Einrichtung türkischer Gymnasien könnte zur nachhaltigen Akzeptanz der in Deutschland lebenden Türken beitragen. Sie wären nämlich ein Beitrag zur Normalisierung des verkrampften interkulturellen Dialogs zwischen der deutsch-türkischen Community und der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Denn dieser Schritt vermittelt nicht nur den Deutsch-Türken, dass man sie akzeptiert und anerkennt, sondern man vermeidet auch die Türken stigmatisierende Botschaften in Richtung der deutschen Öffentlichkeit: Die Türkei ist ein Partner und kein Konkurrent in den Integrationsanstrengungen.

Ich habe mich entschieden: Deutschland ist meine Heimat. Es bildet meinen Lebensmittelpunkt. Ich wünsche mir ein Leben in Gesundheit, Glück und Wohlstand – wie jeder andere Mensch in diesem Land auch. Daher wünsche ich mir, dass diese unsägliche Paranoia, die hin und wieder die deutsche Integrationsdebatte dominiert und auch unerträglich macht, endgültig überwunden wird, damit wir uns endlich auf die Themen konzentrieren können, die wichtig sind: dieses, unser Land auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten.

  1. Ich präferiere den Begriff bildungsfremd statt bildungsfern, da nach meinen bisherigen Erkenntnissen die in Deutschland lebenden Türken eine beachtliche Bildungsaspiration aufweisen. Das Problem besteht aber in den geringen Kenntnissen von einigen türkischstämmigen Eltern über das deutsche Bildungssystem. Ihnen fehlt oft das Orientierungswissen, um ihren Kindern den Weg im deutschen Bildungsdschungel zu weisen.