Bildung

Noch (lange) nicht gleichauf – Chancen junger Migrantinnen

Nada: die erste mit einem Abitur in der Familie

Nada liest den Artikel über die schlechte Bildung von MigrantInnen nicht zu Ende. Sie ärgert sich, sie hat in letzter Zeit mehrere solcher Berichte gelesen. „Natürlich stimmt es, dass viele Ausländer, die hier leben, keine gute Bildung haben. Aber sie sollen nicht immer nur diese Diagramme in den Zeitungen abdrucken. Sie sollen auch mal mit uns reden, uns zuhören, dann würden sie vielleicht ab und zu auch mal ein paar andere Geschichten schreiben.“

Sie ist 19 Jahre alt, die zweite von sechs Töchtern einer Palästinenserin und eines Halblibanesen und lebt in einem Bezirk, der in den Medien sehr verschrien ist, ihr aber sehr gut gefällt – Berlin-Neukölln. Nada ist das Gegenbeispiel zu den oft zitierten, schlecht integrierten MigrantInnen mit wenig Bildung. Sie hat ein gutes Abitur gemacht und fängt in einer Woche an, Jura zu studieren. Sie gehört zur aufstrebenden Gruppe der sogenannten zweiten Generation, die das erreichen will, was ihren Eltern oftmals verwehrt wurde: einen anerkannten Platz in unserer Gesellschaft. Deshalb wählen viele von ihnen Prestige versprechende Studiengänge wie Medizin, Jura oder BWL und können sich eher den Sprung in die Selbstständigkeit vorstellen als ihre deutschen StudienkollegInnen. Schade nur, dass der deutsche Staat so wenig tut, um Menschen wie Nada zu unterstützen. Laut einer Studie der OECD klafft in keinem Industrieland das Bildungsniveau von EinwandererInnen und einheimischer Bevölkerung so weit auseinander wie in Deutschland. Dabei ist das Land dringend auf gut ausgebildete MigrantInnen angewiesen, um den in den nächsten Jahren von Ökonomen erwarteten Fachkräftemangel auszugleichen.

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Wie kam Nada also dahin, wo sie heute steht? Mit einem Abitur in der Tasche und einem klaren Ziel vor Augen, was Studium und Beruf angeht? Es war wohl die Kombination aus einem positiven Umfeld, einem festen Willen, Talent und vor allem Glück. Letzteres ist besonders wichtig, wenn die anderen Ausgangsvoraussetzungen nicht so gut sind.

Ihre Eltern sind stolz auf sie. „Ich bin die erste in der Familie, die das Abitur gemacht hat“, erzählt sie. Ihre Mutter ist Hausfrau ohne Berufsausbildung, gerade lernt sie Deutsch an einer Sprachschule. Ihr Vater hat in verschiedenen Fabriken gearbeitet und wird bald in Rente gehen. Nicht gerade ein bildungsbürgerlicher Hintergrund, wie es so schön heißt. Trotzdem haben Nadas Eltern früh in die Zukunft ihrer Tochter investiert. Mit zweieinhalb wurde sie in einen deutschen Kindergarten und später in die Vorschule geschickt, wo sie perfekt Deutsch lernte.

Dass sie studieren will, wusste sie „schon immer“. „Ich wollte nie zu dem typischen Klischee einer Frau mit Migrationshintergrund gehören, die eine schlechte Bildung hat und zeitig Kinder bekommt“, sagt sie bestimmt. Die konkreten Vorstellungen von einem Studium, die sie heute hat, kamen aber auch nicht aus dem Nirgendwo. Der Auslöser war ein Schulpraktikum in einer Arztpraxis, das sie vor ein paar Jahren absolviert hat. „Hier habe ich gemerkt, dass ich unglaublich gern Medizin studieren würde. Mein Chef war total begeistert von der Idee und hat mich richtig unterstützt und mir ganz viel gezeigt.“ Sie machte die Arbeit so gut, dass ihr später ein Aushilfsjob in der Praxis angeboten wurde, dem sie immer noch nachgeht. Wenn man sie während ihrer Arbeit erlebt, kann man sich kaum vorstellen, eine 19-Jährige vor sich zu haben, so souverän und geduldig wie Nada mit den PatientInnen umgeht.

Dass sie nun Jura studiert, liegt am zu hohen Numerus Clausus für Medizin, den sie mit ihrer Abiturnote knapp verfehlt hat. Sie ist mit der zweiten Wahl jedoch sehr zufrieden, sieht sie doch auch hier gute Chancen, ihr Ziel umzusetzen und etwas für die Gesellschaft zu tun. „Familien- und Jugendrecht oder irgendwas mit Menschenrechten kann ich mir sehr gut vorstellen.“

Nada hat es geschafft, doch ihr Fazit bezüglich Chancengleichheit fällt nicht besonders gut aus. In der Studi VZ-Gruppe der Jura-Erstsemester an ihrer Uni haben von ungefähr 150 Leuten nur 10 einen ausländischen Namen. „Ich glaube nicht, dass das Zufall ist. Ich habe so viele Geschichten gehört und gelesen, in denen Menschen mit Migrationshintergrund deswegen Probleme in der Schule oder im Beruf hatten. Unsere Bildung ist nicht das Problem, ich glaube viele Altersgenossen sind sehr ehrgeizig und sehr erfolgreich, aber so lange uns nicht die Chancen gegeben werden, die wir verdienen, nützt der beste Abschluss nichts.“

Maya: Tipps von der Therapeutin
Etwas anders verlief der Weg von Maya* (Name geändert). Die 17-Jährige hat schon viel hinter sich. In der Pubertät bekam sie eine psychisch bedingte Form von Asthma, was ihren Traum, Kriminalpolizistin zu werden, erst einmal platzen ließ. Den Realschulabschluss in der Tasche wusste sie nicht, was sie nach der 10. Klasse machen sollte. „Von der Agentur für Arbeit wurde mir eine Ausbildung zur Arzthelferin sozusagen aufgezwungen, das habe ich aber nur eine Woche durchgehalten, dann habe ich es abgebrochen“, berichtet sie. Das Engagement einer Person ihres Vertrauens verhinderte, dass sie in einen Zustand verfiel, der viele Jugendliche mit Migrationshintergrund nach der Schule betrifft: Arbeitslosigkeit und Hartz IV. 42 Prozent der Hartz-IV EmpfängerInnen zwischen 18 und 24 Jahren stammen aus Einwandererfamilien – ein trauriger Fakt.

Maya aber hatte ihre Therapeutin, die an sie glaubte und ihr empfahl, sich an einer Schule zu bewerben, die FremdsprachenassistentInnen ausbildet. Dank ihrer Unterstützung wurde Maya angenommen, obwohl die Anmeldefrist schon verstrichen war. Eine große Chance, obwohl der Anfang nicht gerade einfach war: „Das war ein Kulturschock für mich, auf einmal war ich mit lauter Deutschen in der Klasse, in meiner Schule vorher waren wir nur Araber und Türken.“ Nach einiger Zeit verstand sie sich jedoch sehr gut mit ihren MitschülerInnen, bestand aber das Probehalbjahr nicht, weil der Lernstoff zu viel wurde. Sie musste die Schule verlassen – wieder eine Baustelle in ihrem Leben. Sie selbst sieht das anders: „Ich habe das halbe Jahr Pause gebraucht, um mich zu entscheiden, was ich eigentlich beruflich machen will.“

Wieder einmal war es ihre Therapeutin, die ihr den entscheidenden Tipp gab, es einmal mit dem sozialen Bereich zu versuchen, weil ihr die Arbeit mit Menschen lag. Auf ihren Rat hin bewarb sich Maya an einer Schule für Sozialwesen in Berlin, um ihr Fachabitur zu machen. Weil sie wieder einmal die Anmeldefrist verpasst hatte, fragte sie bei MaDonna Mädchenkultur in Berlin-Neukölln nach, ob sie dort ein Praktikum zur Vorbereitung machen könnte. Selbst im Kiez aufgewachsen, war ihr der Mädchentreff, der seit 1982 einen wichtigen Teil der Jugendarbeit in Neukölln ausmacht, ein Begriff. „Jetzt bin ich seit einem Monat hier und die Arbeit macht mir total viel Spaß“, erzählt sie. Sie hat einen sehr guten Draht zu den Mädchen entwickelt, die sie bewundern und gern haben. Sie betreut mehrere Gruppen und kann hier ihre Talente wie Tanzen einsetzen, wovon andere und sie selbst etwas haben.

Maya ist eine fröhliche, selbstsichere junge Frau, die den anderen Mädchen mit der Kraft, die sie ausstrahlt, Mut macht. Ihre Jugend aber war alles andere als einfach. Ihre Eltern kamen vor 20 Jahren aus der Türkei nach Berlin-Neukölln, wo 4 der 7 Geschwister geboren wurden. Seitdem hat die Familie Berlin kaum verlassen. „Vor drei Jahren war ich das erste Mal im Ausland, weil wir da erst eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen haben.“ Maya hat dieser unklare Status in ihrer Kindheit und Jugend oft belastet: „Ich wusste lange nicht, was ich eigentlich bin, ich bin zwar hier geboren, wurde aber oft nicht so behandelt.“ Diese Erfahrung hat sie aber auch stark gemacht. Heute ist sie mit Blick auf ihre eigene Zukunft überzeugt: „wenn man etwas will, dann schafft man das auch“.

Fazit
Wie sieht es nun aus mit den Chancen und Schwierigkeiten von Migrantinnen, was Bildung angeht? Ein einheitliches Fazit aus den beiden dargestellten Erfahrungen zu ziehen, fällt schwer. Zu unterschiedlich sind die Lebenswege der beiden Mädchen, um sie vergleichen zu können. Bei genauerem Hinsehen fällt jedoch eine Gemeinsamkeit auf: ihre beruflichen Chancen scheinen, abgesehen von individuellen Anstrengungen, mehr von Glück und Zufall abzuhängen als die der Deutschen in ihrem Alter.

Diese können in den meisten Fällen auf familiäre und andere Strukturen zurückgreifen, die ihnen helfen, ihren Platz im Bildungssystem zu finden und zu behaupten. Dieses Fundament fehlt den meisten jungen Migrantinnen, die oft als erste aus der Familie mit dem deutschen Schulsystem konfrontiert sind und, abgesehen vom Austausch mit MitschülerInnen in ähnlichen Situationen, damit auch ziemlich allein da stehen.

Eine junge Migrantin hat von Anfang an mit mehr Herausforderungen zu kämpfen als ein deutsches Mädchen in ihrem Alter. Von Bildungsgerechtigkeit kann (noch) keine Rede sein.

Erstveröffentlichung: Herkunft als Schicksal? Hürdenlauf zur Inklusion