Rückblick

10 Jahre neues Staatsangehörigkeitsgesetz

Vor zehn Jahren trat das neue Staatsangehörigkeitsgesetz in Kraft. Zeit, seine Entstehung und Hintergründe, Revue passieren zu lassen.

Eine „Politik des Nichtstuns“ sei die schlechteste aller Politik, so der ehemalige Innenminister Otto Schily kurz nach dem rot-grünen Wahlsieg im Jahr 1999. Er meinte damit 16 Jahre CDU-Regierung und 16 Jahre Abwesenheit von Integrationspolitik. Das Jahr 1999 sollte den Anfang einer „Politik des Tuns“ in der deutschen Einbürgerungs- und Migrationspolitik markieren. Es war das Jahr, in dem Deutschland auch im öffentlichen und politischen Diskurs zum „Einwanderungsland“ wurde, nachdem es ebendieses in der Realität bereits seit Jahrzehnten war, ist und vor allem: so bleiben wird.

Die rot-grüne Regierung bemühte sich um Sanierung. Ihr erstes Projekt sollte ein Gesetz sein, an dem 87 Jahre fast ohne Spuren vorbeigegangen waren: Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht, das ausschließlich auf dem Abstammungsprinzip basierte. Von Geburt an „deutsch“ war ein Kind demnach nur, wenn mindestens ein Elternteil deutscher Staatsbürger war. Ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht sah, zumindest für Befürworter der Reform, anders aus. Es sollte mehr einschließen, als ausschließen, mehr und leichter Ausländer zu Deutschen machen, als es das bisher getan hatte.

___STEADY_PAYWALL___

No taxation without representation
Betrachtet man die lange Zeit, in der die Abstammung ein entscheidendes Kriterium bei der Vergabe der Staatsangehörigkeit darstellte, ist die Einführung des Geburtsortsprinzips ein revolutionärer Bruch im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht. Ein Paradigmenwechsel im Recht und ein Signal an die Gesellschaft als Ganzes. „Fast vierzig Jahre nach Ankunft des ersten Gastarbeiters“, so der damalige Innenpolitische Sprecher der Grünen und heutige Grünenvorsitzende, Cem Özdemir, „leben rund 7,3 Millionen Menschen dauerhaft in Deutschland. Sie arbeiten, sie zahlen Steuern und Abgaben, sie halten sich an Recht und Gesetz. Sie sind Ärzte, Einzelhändler, Betonbauer oder Rentner. Kurzum: Sie sind Teil unserer Gesellschaft und Kultur geworden.“ Gleichzeitig verhinderten jedoch die restriktiven Einbürgerungsbedingungen im Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht, dass diese Menschen auch rechtlich und damit politisch Teil der Gesellschaft werden. Diesen Zustand wollte die rot-grüne Regierung ändern.

Niedrige Einbürgerungszahlen als Demokratiedefizit
Die Einbürgerungsquote ist ein Indikator für die Offenheit eines Einbürgerungssystems eines Landes. Und das deutsche System ist im europäischen Vergleich ziemlich verschlossen. So ließen sich in den 1980er Jahren durchschnittlich nur 0,3 Prozent der ausländischen Bevölkerung einbürgern. Mit der Änderung des Ausländergesetzes im Jahre 1991, der Erleichterung der Einbürgerung und der Einführung eines Einbürgerungsanspruches nach acht Jahren stieg die Zahl der Einbürgerungen in den folgenden Jahren langsam an. Seitdem ließen sich durchschnittlich 93.000 Ausländer pro Jahr einbürgern. Viele europäische Länder – darunter die Niederlande, Schweden, Dänemark, und Finnland als Spitzenreiter – weisen eine vielfach höhere Einbürgerungsquote als Deutschland auf.

Problematisch ist eine niedrige Einbürgerungsquote aus folgendem Grund: Der dauerhafte rechtliche Ausschluss eines bedeutsamen Teils der Bevölkerung ist ein Demokratiedefizit. Denn die vom Wahlrecht ausgeschlossenen haben keine direkte Möglichkeit, die Politik des Landes zu beeinflussen.

Die Reform wollte…
So waren die Kernpunkte des ursprünglichen Reformentwurfs neben der Einführung des Geburtsortsprinzips die Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit. Denn die Aufgabe der ursprünglichen Staatsangehörigkeit stellt laut Umfragen eines der größten Einbürgerungshindernisse dar. Der Doppelpass war nicht Kern der Reform, sondern vielmehr eine Art Hilfskonstruktion, ein Instrument, die Zahl der Einbürgerungen anzukurbeln und damit die defizitäre Integrationspolitik der Vergangenheit zu überwinden: Ein Angebot an Migrantinnen und Migranten, deutsche Staatsbürger zu werden.

Deutsch oder nicht deutsch, das ist hier die Frage…
Neiddebatte, Integrationsdebatte, Sicherheitsdebatte. All das war der Diskurs zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Der Doppelpass avancierte schnell zum umstrittensten Punkt des gesamten Reformentwurfs. Die Unionsparteien bewerteten seine Einführung als grundlegendes Integrationshemmnis: Wer Deutscher oder Deutsche werden wolle, müsse sich explizit dafür entscheiden. Deutsch oder nicht-deutsch, das war die Frage.

Rechte wurden zu Rosinen: Bei zwei Staatsbürgerschaften könne man sich ja die Rosinen herauspicken. Und Rosinen wurden zu Neidobjekten: „Wie steht es mit der Gleichheit vor dem Gesetz, wenn durch einen Federstrich des Gesetzgebers auf einmal vier Millionen Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland zusätzlich zu ihrem bisherigen Paß einen deutschen Paß bekommen, während der deutsche Michel sich mit einem (deutschen) Paß begnügen muß?“, fragte der Staats- und Völkerrechtler Ingo von Münch damals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und schloss seine Überlegungen mit der rhetorisch anmutenden Frage ab: „Wird diese Ungleichbehandlung zu mehr Freundschaftlichkeit oder zu mehr Feindseligkeit führen?“

„Das Volk“ soll entscheiden…
Der Doppelpass schaffte es dermaßen an Brisanz zu gewinnen, dass die Unionsparteien sogar von einem ihrer politischen Standpunkte abrückten. Waren CDU und CSU in der Vergangenheit stets gegen plebiszitäre Elemente, da sie zu einer Schwächung der repräsentativen Demokratie führten, sollte beim Doppelpass „das Volk“ entscheiden. Die bundesweite Unterschriftenaktion mit dem Titel „Ja zur Integration – Nein zu doppelter Staatsangehörigkeit“ startete im Rahmen des Landtagswahlkampfs in Hessen. Am Ende unterschrieben fünf Millionen Menschen gegen die Einführung des Doppelpasses.
Die Kampagne sorgte für lange und kontroverse Diskussionen und war vor allem eines: Effektreich. Der gesamte Reformdiskurs verengte sich immer mehr auf den Doppelpass, mit dem sich alles zu verdoppeln schien: Rechte, Identität und Loyalität. Die emotional und erbittert geführte Debatte ließ den Kern der Reform, die Erhöhung der Einbürgerungsrate durch erleichterte Einbürgerungsbedingungen, in den Hintergrund rücken. Im Vordergrund standen die vermeintlich gescheiterte Integration, „deutsche“ und „ausländische“ Identitäten, Parallelgesellschaften und Ausländerkriminalität. Viele Argumente berührten den Doppelpass nur sehr indirekt, sie instrumentalisierten vielmehr Ängste, die mit der Anwesenheit von Ausländern überhaupt verknüpft sind.

Ein revolutionärer Kompromiss: Das Optionsmodell
Die CDU gewann die Landtagswahlen in Hessen und die rot-grüne Regierung büßte damit die Mehrheit im Bundesrat und mit ihr die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts erheblich an Kraft ein. Die doppelte Staatsangehörigkeit war politisch nicht mehr durchsetzbar und das endgültige Gesetz ein politischer Kompromiss in Form des „Optionsmodells“: Kinder, die nach dem 01. Januar 2000 in Deutschland geboren sind oder zu diesem Zeitpunkt, das zehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erhalten die deutsche Staatsangehörigkeit und können die elterliche behalten. Voraussetzung hierfür ist, dass wenigstens ein Elternteil seit mindestens acht Jahren über einen rechtmäßigen Aufenthalt im Inland und zudem über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht verfügt.

Allerdings sieht das neue Gesetz die Mehrstaatigkeit nur temporär vor: Im Zeitraum 2008 bis 2024 werden etwa 320.000 Jugendliche optionspflichtig und von den Behörden angeschrieben. Sie sind verpflichtet, sich zwischen ihrem 18. und 23. Lebensjahr für eine der Staatsangehörigkeiten zu entscheiden. Passiert dies nicht, „erlischt“ die deutsche Staatsbürgerschaft. Rechtswissenschaftler und Juristen bezweifelten schon damals die Verfassungsmäßigkeit der Optionsregelung, schließlich verbietet Art. 16 Abs. 1 des Grundgesetzes den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit. Letztlich bietet dieses rechtliche Konstrukt nur eine Option: Wer Deutscher oder Deutsche bleiben will, muss sich explizit für die deutsche und gegen die elterliche Staatsangehörigkeit entscheiden.

Die Einführung des Geburtsortsprinzips stellt eine revolutionäre Neuerung im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht dar. Überschattet wird sie jedoch durch die im Optionsmodell verankerte Halbherzigkeit, die für politische und gesellschaftliche Nachwehen sorgen wird. Fraglich ist insbesondere, welche integrationspolitischen Auswirkungen es haben wird, wenn tausende von Jugendlichen wieder ausgebürgert werden.

Verfehltes Ziel
Am Ende der Debatte um den Doppelpass fiel es schwer, sich an das ursprüngliche Ziel der Reform zu erinnern: Die Erhöhung der Einbürgerungsquote durch die Erleichterung der Einbürgerungsbedingungen. Das Ziel wurde nicht erreicht. Der erwartete Ansturm von Antragsstellern blieb aus. Im Gegenteil sinkt die Einbürgerungsquote nach einem kurzzeitigen Anstieg im Jahre 2000 und 2006 stetig. Im Jahr 2008 erreichte sie schließlich den niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung: Es ließen sich nur noch 94.500 Ausländer einbürgern – rund 18.600 weniger als im Vorjahr, was einem Minus von 16 Prozent entspricht. In Mecklenburg-Vorpommern sank die Zahl der Einbürgerungen im Vergleich zum Vorjahr sogar um 41 Prozent, in Hamburg um 31 Prozent und in Bayern um 24 Prozent.

Ein Grund für die rückläufigen Zahlen ist die Einführung eines schwierigeren Sprachtests im Jahr 2007, in dem sowohl mündliche als auch schriftliche Fähigkeiten von Einbürgerungswilligen abgefragt werden. Die erhöhten Sprachanforderungen scheinen für viele eine abschreckende und für einige eine unüberwindbare Hürde auf dem Weg zur deutschen Staatsangehörigkeit zu sein. Dies enthüllt einen grundsätzlichen Widerspruch. Einerseits wird gesagt: „Lasst Euch einbürgern, werdet Deutsche!“ Andererseits wird der Weg zum deutschen Pass immer schwieriger, sei es durch immer höhere Sprachanforderungen oder Integrationsnachweise bei der Einbürgerung.

„Sagt Ja zu Deutschland!“
Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, appellierte kürzlich an die Jugendlichen und kündigte eine Überprüfung des Optionsmodells an (wir berichteten). Sie forderte die Optionskinder auf, sich für die deutsche Staatsangehörigkeit zu entscheiden.
Wenn man die langwierigen Diskussionen um das Optionsmodell betrachtet, könnte man meinen, es handle sich bei der doppelten Staatsbürgerschaft um etwas ganz Außergewöhnliches. Das ist aber ein Märchen: Der Doppelpass ist keine Rarität mehr, über die Hälfte aller Einbürgerungen erfolgt heute unter Hinnahme des Doppelpasses. Die Ausnahme ist schon längst zur Regel geworden. Von dieser Privilegierung sind nur einzelne wenige Migrantengruppen ausgenommen. Nichts anderes tut auch die Optionspflicht. Sie unterscheidetzwischen Migrantengruppen: Kinder von EU-BürgerInnen beispielsweise können beide Pässe behalten. Ihnen wird keine Pflicht aufgebürdet, sich entscheiden zu müssen. Sie dürfen deutsch und nicht-deutsch zugleich sein.

Das Problem des Optionszwangs ist, dass er Ungleichheit schafft – egal für welchen Pass sich die Jugendlichen auch entscheiden. Wenn Frau Böhmers Appell ehrlich gemeint ist, dann sollte es eine Option für alle geben: die doppelte Staatsbürgschaft.