Hartz IV

Die Ethnisierung sozialer Probleme

Einer Studie des Bundesarbeitsministeriums zufolge beziehen Migranten häufiger Hartz IV als der Rest Deutschlands. Die Studie wurde bereits November 2009 veröffentlicht (wir berichteten), bekommt aber erst jetzt die ihm gebührende Aufmerksamkeit.

Der „Zeit“-Herausgeber Giovanni di Lorenzo hat diese Studie mit der aktuellen Hartz-IV-Diskussion verknüpft. Während 4,3 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland Hartz IV beziehen, beträgt diese Quote bei Migranten 8,1 Prozent, heißt es nun in den Medien.

Die Studie
Die Ursachen aber spielen in der Berichterstattung keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Dabei zeigt die Studie vielfältige Gründe auf: mangelndes Sprach- und Bildungsniveau auf der einen, mangelnde Beratungs- und Vermittlungsangebote seitens der Arbeitsvermittlungsstellen und schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt auf der anderen Seite.

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Die Studie offenbart aber auch, dass die meisten Hartz IV-Empfänger mit Migrationshintergrund gerne arbeiten würden und willens sind, ihren eigenen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Kurz: Sie widerlegt viele Vorurteile, denen Hartz IV-Empfänger ausgesetzt sind.

Soziale Probleme nicht ethnisieren
Der migrations- und integrationspolitische Sprecher der Grünen, Memet Kilic, verweist auf die Studie der Universität Konstanz, wonach „selbst hochqualifizierte Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt gegenüber Biodeutschen wegen ihrer ausländischen Namen benachteiligt“ sind (wir berichteten). Auch bestünden für viele Migranten „de facto ein befristetes Arbeitsverbot“ oder noch heute existiere „in Beschäftigungsverordnungen die Regelung, wonach Nicht-EU-Bürger eine Stelle erst dann erhalten, wenn die Stelle nicht durch Deutsche oder EU-Bürger besetzt werden kann“.

Schließlich befänden sich viele „Migranten, die seit den 1950er Jahren durch Anwerbeverträge in die Bundesrepublik Deutschland geholt worden sind jetzt im Rentenalter“ und würden, „wie viele deutsche Rentnerinnen und Rentner eine sehr bescheidene Rente“ beziehen. Wenn dieser Personenkreis auf Hartz IV angewiesen sei, liege das an der Rentenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, so Kilic. In einer solidarischen Gesellschaft solle man „soziale Probleme nicht ethnisieren, sondern die Diskriminierungen bestimmter Personengruppen bekämpfen“.

Ähnlich sieht es der integrationspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Serkan Tören. Für ihn ist mangelhafte Ausbildung und ein geringer Bildungsstand ursächlich für Hartz IV Bezug. „Diese Kausalität gilt allerdings für alle Bürgerinnen und Bürger, ob mit Migrationshintergrund oder ohne“, so Tören.

Alarmierend
Ungeachtet der vielfältigen Ursachen, die mehr in der Sphäre des Staates liegen als bei den Betroffenen, findet die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Maria Böhmer (CDU) die Quoten der Hartz IV-Bezieher mit Migrationshintergrund „alarmierend“. Der Umstand, dass die Bundesregierung die Anerkennung der ausländischen Abschlüsse und Qualifikationen – auch nach Jahren seit Bekanntwerden des Problems – immer noch nicht geregelt hat, erhielt das Prädikat „alarmierend“ jedoch nicht.

Auch wurde dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (wir berichteten) kein „alarmierendes“ Prädikat zugesprochen, nachdem darin festgestellt wurde, dass die Hartz IV-Regelsätze für Kinder die notwendigen Aufwendungen für Schulbücher, Schulhefte, Taschenrechner etc. unberücksichtigt lassen. Angesichts der aktuellen Debatte um hohe Hartz IV-Empfängerquoten unter Migranten stellt Böhmer lediglich fest: „Wer eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben will, muss über deutsche Sprachkenntnisse und eine gute Bildung verfügen.“

40 % – 20 % = 20 %
Für Wolfgang Bosbach (CDU), Chef des Bundestags-Innenausschusses, gibt es ebenfalls „einen engen Zusammenhang zwischen Bildung, Integration und guten Chancen auf dem Arbeitsmarkt“. Allerdings mit einem anderen Fokus. Es sei völlig inakzeptabel, dass gut 20 Prozent der Ausländer den verpflichteten Sprach- oder Integrationskurs abbrechen oder gar nicht erst antreten. „Da müssen die gesetzlichen Sanktionen auch tatsächlich verhängt werden“, so Bosbach.

Noch Mitte Oktober hatte er noch behauptet, die Verweigerer-Quote würde bei 40 Prozent liegen. Die Bundesregierung legte Zahlen offen und teilte auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion mit (wir berichteten), dass im Jahr 2008 „sich 77 % aller durch die Ausländerbehörde der Länder und die Träger der Grundsicherung Verpflichteten beim Kursträger angemeldet“ und „fast alle … auch den Kurs begonnen“ haben. Damit läge die Quote der vermeintlichen „Verweigerer“ allenfalls bei 23 %.

Allerdings könne man auch bei den nicht teilnehmenden 23 % nicht von „Verweigerern“ sprechen, so die Bundesregierung: „Eine Aussage, ob es sich bei den übrigen Verpflichteten um ‚Verweigerer‘ handelt, kann nicht getroffen werden. Es können auch andere Entschuldigungsgründe (z.B. Umzug, Fortzug ins Ausland, Schwangerschaft, Eintritt in den Arbeitsmarkt, Krankheit, Teilnahme an vorhandenem Kursangebot nicht zumutbar) vorliegen“.

Bewusste politische Instrumentalisierung von Vorurteilen
Angesichts dieser Erkenntnisse könne man sich, so die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sevim Dagdelen, des Eindrucks nicht erwehren, dass Bosbach „die aktuelle Debatte über Hartz IV nutzen will, um Sündenböcke ausfindig zu machen.“ Offensichtlich liege es Bosbach sehr am Herzen, durch beständige Attacken gegen Migrantinnen und Migranten ein Klima des Misstrauens und der Ablehnung zu schaffen. Anders könne man eine solche Verdrehung der Fakten nicht erklären.

„Die Zahlen der Bundesregierung belegen, dass Migrantinnen und Migranten ein hohes Interesse an der Teilhabe an Integrationskursen haben“, so Dagdelen. Bei Bosbach handele es sich „allerdings nicht um ein Rechenproblem, sondern um die bewusste politische Instrumentalisierung von Vorurteilen.“ Schließlich existierten Sanktionsmöglichkeiten längst und es gebe keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass diese in der Praxis nicht genutzt werden.

Anreiz: Turbo-Einbürgerung
Ein „Wegkommen von dem ewigen Reflex des Sanktionierens“ fordert Serkan Tören (FDP). Dieser Weg sei nicht nachhaltig und setze die falschen Signale. Vielmehr müssten Instrumentarien entwickelt werden, „die wirkliche Anreize schaffen, das Glück in Deutschland in die eigenen Hände zu nehmen und Teil der Gesellschaft werden zu wollen. Diese Bemühungen müssen dann auch von der Mehrheitsgesellschaft und der Politik anerkannt und belohnt werden, beispielsweise mit einer Turbo-Einbürgerung.“

Solche Zielvereinbarungen müssten „aber endlich in ein Gesamtkonzept eingebunden werden.“ Deutschland habe zur Zeit einen regelrechten „Integrations-Flickenteppich“. Tören abschließend: „Integrationsverträge könnten hierfür das passende Instrument sein. Ziel muss es sein, die Integration von beiden Seiten aus verbindlicher zu gestalten, aber ohne Sanktionen!“