Gedankenexperiment

Weiße Deutsche und türkische Machos – Tautologien für die Mehrheitsgesellschaft

Thilo Sarrazins umstrittenes Interview in der Zeitschrift Lettre International brachte den Diskurs um Integration und Migration kürzlich zurück in den Fokus der Öffentlichkeit. Rassismus und Ausländerfeindlichkeit wird so von Teilen der deutschen Öffentlichkeit als mutiger Tabubruch gefeiert.

Von Mittwoch, 17.02.2010, 8:03 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.09.2010, 17:14 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Auch in diesem im Oktober 2009 erschienenen Interview ist der ehemalige Berliner Finanzsenator sehr bemüht, den Eindruck eines gut informierten und sachlich argumentierenden Freidenkers zu erwecken. Auf welche Zahlen er sich bezieht, wenn er von 70 Prozent der türkischen respektive 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin spricht, die den deutschen Staat angeblich ablehnen, steht zwar in den Sternen. Doch wer im Anschluss die ständige Produktion „neuer kleiner Kopftuchmädchen“ brandmarkt, muss so viel Präzision wohl nicht leisten, da er ja ausspricht, „was alle denken“. Das Interview, das auch die „Bild“ unerlaubt abdruckte, sorgte für beträchtliche Furore. Viele Kritiken, aber auch Verteidigungen zierten die Tagespresse. Die Neonazi-Homepage „politically incorrect“ ruft mittlerweile zur Unterzeichnung einer „Support Sarrazin“-Petition auf, und auch in durch mehr Kontroverse gekennzeichneten Diskussionsforen bewundert gut die Hälfte aller User „den Mut“, den „Tabubruch“ Sarrazins, den „entlarvenden“ Charakter seiner Äußerungen oder findet seinen Standpunkt zumindest „interessant“. Der Qualifizierung von Sarrazins Aussagen als „mutig“ muss eine sonderbare Vermutung zugrunde liegen: die Mehrheit in Deutschland ohne Migrationshintergrund kann über die Minderheit mit Migrationshintergrund bestimmte „Wahrheiten“ nicht sagen, sie bekommt von der Minderheit Tabus auferlegt und Regeln der öffentlichen Auseinandersetzung diktiert.

Agnes Krol, 22, studiert Politikwissenschaften, VWL, Philosophie und Pädagogik an der Goethe-Universität in Frankfurt.

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Deutsch oder nicht deutsch
Dabei handelt es sich bei dem Begriff, der hier zur Projektionsfläche wird, um eine recht junge Erfindung des statistischen Bundesamtes. Erst seit 2005 werden in der amtlichen Statistik Personen in der Kategorie „Menschen mit Migrationshintergrund“ erfasst, „die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland Geborene mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil.“ Seit dem ist dieser Begriff aus öffentlichen Debatten kaum mehr wegzudenken und bildet neben „AusländerInnen“ und „MigrantInnen“ eine weitere, umfassendere Schlüsselkategorie zur Unterscheidung der in Deutschland lebenden Menschen.

Mit einer deutschen Mutter und einem polnischen Vater falle auch ich unter die offizielle Definition und habe einen „Migrationshintergrund“. Gemeint bin ich trotzdem nicht, das weiß ich schon seit der Grundschule: Im dritten Schuljahr sollten wir uns einmal nach Nationalitäten geordnet in der Klasse aufstellen, auf der einen Seite des Raumes die deutschen, auf der anderen Seite die nicht-deutschen Kinder. Als ich, mit keiner der Optionen zufrieden, mich in die Mitte stellen wollte, hielt mich meine Lehrerin jedoch davon ab und meinte wohlwollend zu mir, ich gehöre natürlich auf die deutsche Seite. Gedankenexperiment: Wo hätte ich gestanden, wäre eines meiner Elternteile türkischer oder äthiopischer Herkunft? Meinung

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