Handlungsbedarf und Ansatzpunkte

Angebote der Prävention für Erwachsene mit Migrationshintergrund aus Sicht der Praxis

Seit über 20 Jahren betreuen wir Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund in der Medizinischen Klinik III und Poliklinik der Universitätsklinik Gießen und Marburg. Aus diesem Betreuungsangebot ist die Migrantenambulanz entstanden, die eine Lücke in der medizinischen Versorgung von Migrantinnen und Migranten zu schließen vermag, aber sich auch wissenschaftlichen Fragen zu Migration und Gesundheit widmet.

Ein effizienter Zugang zum deutschen Gesundheitssystem ist für die türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten aufgrund sprachlicher Barrieren und der kulturellen Unterschiede mit nicht ausreichender Empathie, erschwert, so dass eine Inanspruchnahme der Frühdiagnostik sowie der präventiven Maßnahmen nicht optimal ist.

In Deutschland leben ca. 3 Millionen Türkeistämmige, von denen über 1 Million der ersten Generation mit einem Durchschnittsalter von 60 Jahren angehören. Dieser Personenkreis bevorzugt überwiegend aufgrund der Sprachbarrieren und der Empathie Ärzte, die die gleiche Sprache sprechen und den gleichen kulturellen Hintergrund haben.

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Das Durchschnittsalter der türkischen Migrantinnen und Migranten liegt bei 34,6 Lebensjahren. (1)

Prof. Dr. Hans-Ulrich Klör, seit 1986 Professur für Innere Medizin, Fachbereich Gastroenterologie, Ernährung, Stoffwechsel und Endoskopie, Medizinische Klinik III, an der Universität Gießen.

In Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland haben wir in den Jahren 1996 und 1997 bundesweit eine Befragung bei 54 Ärzten mit einem hohen Anteil an ausländischen Patienten durchgeführt. An dieser Befragung nahmen 1100 Patienten teil. Ziel der Befragung war u.a. die häufigsten Krankheiten, den Gesundheitszustand, die Annahme von Präventivangeboten durch die türkischen Patienten zu bestimmen.

55,56% der befragten Ärzte waren der Meinung, dass der Gesundheitszustand der von ihnen behandelten ausländischen Patienten im Vergleich zu Deutschen schlechter war. 64,81% der befragten Ärzte beobachteten, dass ausländische Patienten im Vergleich zu Deutschen präventive Angebote seltener in Anspruch nahmen. (2)

Für die ambulante Krankenversorgung in den Praxen ist die Kassenärztliche Vereinigung verantwortlich. Die Kassenärztliche Vereinigung, die Krankenkassen und die Gesundheitsministerien der Länder entscheiden über die Zulassung für eine Niederlassung der Ärzte, damit eine Versorgung der PatientInnen gewährleistet ist. Analysiert man aber die vorliegenden Zahlen, so ist ersichtlich, dass der Migrantenaspekt bei diesen Entscheidungen nicht berücksichtigt wird und der Anteil der praktizierenden bilingualen Ärzte nicht ausreicht, um eine optimale Versorgung der PatientInnen mit Migrationshintergrund zu gewährleisten.

In Hessen z.B. gibt es nach Auskunft der KV Hessen 121 türkischsprachige niedergelassene Ärzte aller Fachrichtungen, aber nur ca. 1/3 dieser zugelassenen Praxen werden von türkischen Ärzten geführt.

Der gleiche Versorgungszustand ist auch im stationären Bereich in Städten mit einem hohen Migrantenanteil an der Gesamtbevölkerung wie z.B. Frankfurt oder Köln, zu beobachten. Hier müssen muttersprachliche Angebote für eine optimale Behandlung gemacht werden.

Gesundheit ist ein Menschenrecht, dass es unabhängig von Sprachkenntnissen zu wahren gilt. Man kann nicht erwarten dass der Patient die Sprache mitbringt, um eine optimale medizinische Versorgung zu erhalten. Selbstverständlich ist die Beherrschung der deutschen Sprache unumgänglich und wünschenswert, aber es sollte in der Gesundheitsversorgung nicht in den Vordergrund gestellt werden.

Migrant sein ist kein Ausdruck von einem Krankheitsprozess. Neben den o.g. Versorgungslücken müssen sich die Gesundheitseinrichtungen entsprechend positionieren und Änderungen in ihrem Versorgungssystem durchführen. Diese Änderungen beziehen sich auf das Personal durch Bildung von interkulturellen Teams und auf die Gesundheitseinrichtungen durch Veränderungen ihrer Rahmenbedingungen.

Ein Handlungsbedarf besteht vor allem bei den Kassenärztlichen Vereinigungen in Städten mit einem hohen Anteil an Migrantinnen und Migranten, wo sie mehr Zulassungen für bilinguale Ärztinnen und Ärzte wie türkischsprachige, russischsprachige oder arabischsprachige genehmigen muss.

Aber auch Krankenhäuser und auch Rehabilitationskliniken müssen räumlich, personell und auch inhaltlich für die Betreuung von Migrantinnen und Migranten besser ausgestattet werden, um die Effektivität der ambulanten und stationären Maßnahmen, den Zugang zu den Einrichtungen sowie die Inanspruchnahme von Präventivmaßnahmen verbessern sollen. Es gibt zurzeit einige Kliniken, die gute Ansätze entwickelt haben und damit auch arbeiten. Diese Angebote sind nicht flächendeckend und auch nicht ausreichend.

Weiterhin besteht Handlungsbedarf bei den einzelnen Landesärztekammern der Länder. Hier müssen im Rahmen der Ärztefortbildungen Qualifikationsmaßnahmen angeboten werden.

Wir möchten Ihnen einige Zahlen zu Krankheitsbildern, die besonders bei türkischen Patientinnen und Patienten häufiger als bei deutschen Patientinnen und Patienten vorkommen, aufzeigen. Die Daten sind in der Klinik erhoben, wissenschaftlich belegt und auch veröffentlicht worden.

Diabetes mellitus:
Prävalenz: 13,6% (15,5% Männer, 11,7% Frauen). (3)

Hepatitis:
1,7% der in Deutschland lebenden Türken war Anti-HCV positiv außerdem waren in dieser Gruppe 38,8% Anti HBc positiv. (4)

Helicobacter pylorii:
89% der türkischen Patienten haben den Keim Helicobacter pylorii. Bei den deutschenPatienten sind es nur 36%. (5)

KHK-Erkrankungen
Es gibt deutliche Unterschiede bezüglich der Alters- und Geschlechtsverteilung zwischen den türkischen und deutschen Patientengruppen. Die türkischen Patientinnen und Patienten waren durchschnittlich 10 Jahre jünger und wiesen eine deutlich höhere Infarktrate als die deutschen Patientinnen und Patienten auf. Zum Zeitpunkt der Angiographie waren 50% der türkischen Patientinnen und Patienten jünger als 50 Jahre und nur 19% der deutschen Patientinnen und Patienten jünger als 50 Jahre. (6), (7)

Mortalität
Das durchschnittliche Sterbealter betrug nach angaben der Generalkonsulate Frankfurt, Köln und München 54 Jahre. (1980: 5%, 1985: 16%, 1991: 15% ).

Unter Berücksichtigung der in vorangegangenen Studien gefundenen Hinweise, dass türkische Patientinnen und Patienten ca. 10 Jahre früher als deutsche Patientinnen und Patienten an Herzkrankheiten erkranken, legt das niedrige Sterbealter von 54 Jahren die Vermutung nahe, dass der Tod in den meisten Fällen auch durch Herzerkrankung verursacht wurde.

Aufgrund dieser Daten können wir feststellen, dass bei türkischen Patientinnen und Patienten Krankheitsbilder von chronischen nicht übertragbaren Krankheiten wie KHK, Diabetes mellitus, Fettstoffwechselstörungen und aber auch Infektionskrankheiten wie Hepatitis gegenüber der deutschen Bevölkerung deutlich häufiger auftreten trotz der Tatsache, dass die türkische Bevölkerung in Deutschland gegenüber der Deutschen jünger ist.

Diese Zahlen belegen wie wichtig eine Frühdiagnostik und die Inanspruchnahme von präventiven Angeboten bei diesen Krankheitsbildern ist.

Literatur

  1. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden
  2. Türkisch-Deutsche Gesundheitsstiftung e.V., Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland: Primäre Prävalenzstudie im Hinblick auf Risikofaktoren von Herz- und Kreislauferkrankungen bei in Deutschland lebenden Türken im Vergleich zu deutschen Patienten, September 1993.
  3. H. Laube, H. Bayraktar, Y. Gökçe, A. Akinci, Z. Erkal, R.H. Bödecker, Y. Bilgin: Zur Diabeteshäufigkeit unter türkischen Migranten in Deutschland, Diabetes und Stoffwechsel 10(2001)
  4. A. Akinci, Y. Bilgin, M.Z. Erkal, N. Tözün, R. Bödecker, R.G. Bretzel, H.U. Klör: Hepatitis B and Virus Serology by Turks living in Germany, A Comparison to Turkey and Germany in View of Migration. Hepatology Vol. 28, No.4, Pt. 2, October 1998.
  5. Doppl W., Bosse D., Bilgin Y., Horn W., Zekorn T., Renelt M., Klör H.U., Federlin K.: Prävalenz von Campylobacterbesiedlung bei türkischen und deutschen Patienten. Klinische Wochenschrift (1989) 67 (Suppl XVI)
  6. Y. Bilgin, W. Doppl, I.C. Demiroglu, A. Orduhan, R.W. Soetanto, H. Kartal, R.G. Bretzel, H.U. Klör, K. Federlin: Comparative Risk Factor Profiles and Coronary Angiography Pattern of Immigrant Turks and Germans with Bypass Operations. 9th International Smposium on Arteriosclerosis, Rosemont-Chicago October 1991.
  7. M. Porsch-Özcürümez, Y. Bilgin, M. Wollny, A. Gediz, A. Arat, E. Karatay, A. Akinci, K. Sinterhauf, H. Koch, I. Siegfried, R.von Georgi, G. Brenner, H.U. Klör: Prevalence of risk factors of coronary heart disease in Turks living in Germany: The Giessen Study. Atherosclerosis 144 (1999) 185- 198.
  8. Y. Bilgin, W. Doppl, R.G. Bretzel: Besonderheiten bei der internistischen Betreuung türkischer Patienten mit koronarer Herzerkrankung in einer Medizinischen Poliklinik. Die Internistische Welt 12/1988
  9. H. Kartal, A. Orduhan, Y. Bilgin, H.U. Klör: Projekt zur Erfassung von exogenen und endogenen Risikofaktoren bei ausländischen Arbeitern mit Erkrankungen des Stoffwechsels und des Herzund Kreislaufssystems. Abschlußbericht 1991.
  10. F. Dappert, W.A. Stertmann, W. Waas, E. Lohmann: Krankheitsverhalten und Behandlungsunterschiede bei türkischen und deutschen Patienten mit koronarer Herzkrankheit. Herz/Kreislauf 23 (1/91)
  11. M. Gallisch, Y. Bilgin: Kommunikationsprobleme türkischer Patienten und deutscher Ärzte als Hindernis psychosomatischer Grundversorgung: Das Beispiel der Herzleiden. Kongress „Kultur im Wandel“, Berlin März 1988.