Prof. Heinz-Jürgen Axt

Auch eine christliche oder atheistische Türkei wäre für die EU eine große Herausforderung

„Die Türkei ist eben ein besonderes Kaliber“ meint Prof. Dr. Heinz-Jürgen Axt, Inhaber des Jean-Monnet Lehrstuhls an der Universität Duisburg-Essen, zum Beitritt der Türkei in die Europäischen Union. Im Gespräch mit MIGAZIN spricht Professor Axt über die Baustellen der Türkei auf dem Weg zur EU, die Haltung der neuen schwarz-gelben Bundesregierung, die Rolle des Islams und wie die EU in 30 Jahren aussehen wird.

Von Derya Gül Mittwoch, 28.10.2009, 10:09 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.09.2010, 22:33 Uhr Lesedauer: 13 Minuten  |  

MiGAZIN: Was verbinden Sie als EU-Experte mit der EU?

Prof. Dr. Heinz-Jürgen Axt: Das erste Wichtige ist, dass der Wohlstand, den die Bürger der EU auch in Deutschland haben, in hohem Maße durch die EU gesichert wird. Neben dem Wohlstandsaspekt ist eine friedliche Nachbarschaft ein zweiter wichtiger Punkt. Nach dem Krieg war es keineswegs selbstverständlich, dass doch relativ zügig zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarn wieder ein friedliches Auskommen hergestellt werden konnte. Ich glaube der entscheidende Hebel dafür war die europäische Gemeinschaftsbildung, die dies entsprechend positiv bewirkt hat.

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MiGAZIN: Wie würden Sie das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU nach einem Beitritt einschätzen? Wäre es eine symbiotische Win-Win Situation oder mehr Geben als Nehmen aus EU-Perspektive?

Axt: Der Beitritt neuer Mitgliedsländer zur EU ist eigentlich immer eine Win-Win Situation. Das kann man grundsätzlich sagen denke ich. Sei es nun 1973 im Falle von Großbritannien oder aber Polens im Jahre 2004: beide Seiten haben Vorteile vom Beitritt gehabt. Die Frage ist immer, in welchen Bereichen kommt es zu Vorteilen und in welchen zu Nachteilen? Was die Türkei betrifft, muss man nicht nur auf den finalen Status der Mitgliedschaft gucken. Wichtig ist vielmehr die Heranführung der Türkei an die EU. Ich finde, dass das Land seit 2002 so viele Fortschritte im innenpolitischen und rechtlichen Bereich gemacht hat, die in hohem Maße von der Heranführung der Türkei an die EU und von der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen abhängig waren. So kann man bereits jetzt sagen, dass aus der Sicht der Türkei eine Win-Situation da ist: Beispiele hierfür sind Reformen und Veränderungen der Verfassung, die Demokratisierung des Landes oder aber die Frage von Minderheitenrechten. Aus EU-Perspektive gibt es sicherlich eine Reihe von Ereignissen, die man als Win-Situation begreifen kann: Die Türkei wird in stärkerem Maße als ökonomischer Partner und als Sicherheitspartner wahrgenommen. Die EU kümmert sich um die Türkei.

Prof. Heinz-Jürgen Axt ist Inhaber eines Jean Monnet-Lehrstuhls, Leiter der Jean Monnet-Forschungsgruppe, Vizepräsident der Südosteuropa-Gesellschaft, München, Leiter der Zweigstelle Duisburg der Südosteuropa-Gesellschaft, Mitglied im Vorstand des Zentrums für Türkeistudien, im International Advisory Board der „Cyprus Review“ und im Advisory Board des Turkish Institute for Security and Democracy (TISD), Washington D.C., Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Kölner Forums für Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik e.V. (KFIBS)

MiGAZIN: Wie denken Sie über den Vorwurf, dass die EU im Bezug auf den Beitritt der Türkei mit zweierlei Maß messe? Vor allem, wenn man an den schnellen Beitritt von Ländern wie Bulgarien oder Rumänien denkt.

Axt: Dieser Vorwurf ist in der Türkei in der Tat sehr verbreitet. Er trifft aber nur zum Teil zu. Er trifft deshalb nicht zu, weil die EU bei jeder Beitrittsrunde die Beitrittsbedingungen verändert hat. Denken Sie nur einmal an die Beitrittsverhandlungen mit Griechenland 1981. Im Vergleich dazu ist die Schwelle bei der Erweiterungsrunde 2004 schon erheblich hochgeschraubt worden. Auch hier sind also schon die Beitrittskonditionen verändert worden. Also wurde bereits bei der Süderweiterung und der Osterweiterung mit zweierlei Maß gemessen. Es ist aber auch richtig, dass im Verhältnis zur Türkei, die Kopenhagener Kriterien abermals stärker operationalisiert wurden. Deswegen könnte man in der Tat von zweierlei Maß sprechen. Man muss aber auch bedenken, dass die Türkei ein besonderes Kaliber ist. Sowohl ökonomisch gesehen, als auch von der Bevölkerungszahl und der außen- und sicherheitspolitischen Funktion her, ist die Türkei ein viel einflussreicherer und bedeutenderer Akteur, als es die meisten Staaten der Osterweiterung von 2004 waren. Aus türkischer Perspektive kann ich vor allem den Vergleich zum Beitritt von Bulgarien und Rumänien gut nachvollziehen. Als Nachzügler der EU-Osterweiterung sind diese Staaten 2007 mehr oder weniger mit in die EU hineingerutscht. Und zwar ohne dass die EU ernsthaft genug geprüft hätte, ob die Beitrittskriterien erfüllt wurden. Da hätte man auch Vieles kritischer sehen können. Daher kann ich die Kritik am zügigen Beitritt der beiden Länder, ohne dass die Beitrittsvoraussetzungen gegeben waren, durchaus verstehen. Interview

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  1. Boli sagt:

    @Otto Fuchs

    Die heutige Türkei ist ein Teil Roms gewesen. Später dann Ostrom. Westrom war schon 1000 Jahre in Staub der Geschichte versunken, da stand Ostrom immer. Erst die Eroberung durch die Ostmannen 1453 hört Ostrom auf.

    Sie sagen es doch im letzten Satz das Ostrom mit der Eroberung durch die Osmanen aufhört. Das ist für mich nicht der Beweis das die Türkei noch Teil Europas ist, sondern eben durch die Zerstörung keine Zugehörigkeit mehr gegeben ist. Und wenn sie es damals noch war da es immer noch erhebliche Bevölkerungsanteile an Griechen und Armeniern gab so hat sie diesen Anspruch spätestens mit der Tötung und Vertreibung dieser Ethnien verloren, da die letzten Reste europäischer Kulturzugehörigkeit mit diesen schlechten Taten vernichtet wurden. Wenn die Osmanen die byzantinische Kultur übernommen hätten wäre es durchaus anders. Es war jedoch nicht so. Und ich erinnere daran das die Türken das Gleiche mit dem Rest Europas versucht hatten was Sie in Kleinasien errichtet haben. Ein weiterer Punkt ist das die Türken mit archäologischen Funden von Völker zu denen sie nie einen wirklichen Bezug hatten eben auch nichts anfangen konnten und teilweise versucht haben die Funde zu türkisieren um der Misere zu entgehen das eigene gewaltsame Eindringen in Anatolien von Asien aus zu verbergen.
    Was den Umgang mit den Kurden angeht. Gestern wurden erste Kurden in die Türkei zurückgelassen. Kurz darauf haben die Bozkurtnazis geschrien und zack wurde die Aktion wieder gestoppt. Ich muß mich wirklich fragen wer hier wirklich „regiert“.

  2. Boli sagt:

    DTP wendet sich an das Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
    Unter der Schlagzeile ‚DTP wendet sich an das Europäische Gerichtshof für Menschenrechte’ schreibt die Tageszeitung Cumhuriyet, die DTP habe nach der Parteischließung durch das Verfassungsgericht beschlossen, die parlamentarische Vertretung aufzugeben und zum Volk zurückzukehren. Außerdem werde die DTP sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden.

    Was habe ich Ihnen gesagt Frau Gül?