Falsche Maßstäbe

Grundgedanken zur politischen Teilhabe von Menschen muslimischen Glaubens

Vor acht Jahren hätte ich mir niemals vorstellen können, Mitglied einer politischen Partei zu werden oder den Blick auf das gesellschaftliche Ganze zu richten Der 11. September war für uns alle einschneidend.

Von Dienstag, 22.09.2009, 8:17 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.02.2023, 8:47 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Ich hatte zwei Jahre zuvor meinen muslimischen Glauben gefunden und versuchte diesen, soweit wie es mir möglich war, zu verstehen und zu praktizieren. Keine einfache Aufgabe, wenn es keinen islamischen Religionsunterricht gibt und die Imame der beiden türkischen Moscheen im Ort kein Deutsch sprechen. An jenem 11. September wusste ich, dass ich am nächsten Tag in der Schule unweigerlich Rechenschaft ablegen müsste, ob meine Religion so etwas gebiete. So war es dann auch. Ich musste von Schulstunde zu Schulstunde, von Fach zu Fach, von Lehrer zu Lehrer und natürlich auch meinen Mitschülern erklären, dass die Geschehnisse in New York nicht mit dem Islam vereinbar seien. Statt einen fachkundigen muslimischen Theologen einzuladen, wandte man sich an mich. Die Erfahrung mich von etwas distanzieren zu müssen, mit dem ich sowieso nichts zu tun hatte, hinterließ in mir das Gefühl der Fremdheit, des Anderssein.

Bis zum Abitur wurde ich durchgängig mit dem Thema Islam konfrontiert. Manche Geschichtsstunden entwickelten sich zu reinen Debatten zwischen meinem Lehrer und mir, in denen Hungtington Grüßen ließ.

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Im mündlichen Abitur wurde ich dann in Geschichte geprüft, dabei ging es weniger um den Unterrichtsstoff, als um die Frage, ob ich als Bildungsminister eines muslimischen Landes die Lektüre Nathan der Weise einführen würde.

Je länger ich von meiner Außenwelt als Fremder wahrgenommen wurde, desto mehr kapselte ich mich freiwillig ab. Damals gefiel ich mir in meiner Rolle des rebellischen Außenseiters. Heute, rückblickend, stelle ich jedoch fest, dass mir durch mein Alleinsein nichts anderes mehr als der Islam geblieben war. Mein Glaube erhielt eine ein- und überdimensionale Rolle. Ich glaube, dass viele Menschen muslimischen Glaubens genau diese Erfahrung nach dem 11. September gemacht haben.

Das WIR und DIE in unserem Land
Als Islamwissenschaftler stelle ich fest, dass Menschen muslimischen Glaubens, aber auch nichtmuslimischen Glaubens eine imaginäre Vorstellung vom Islam geschaffen haben. Menschen nichtmuslimischen Glaubens führen in der Regel alle politischen, alle sozialen, alle kulturellen und alle wirtschaftlichen Probleme der Muslime auf den Islam zurück. Das Fehlen von Demokratie in der muslimischen Welt wird dem Islam angelastet. Ehrenmorde im türkischen Milieu werden dem Islam angelastet. Müll im Berliner Tiergarten wird dem Islam angelastet. Die Zeit titelte vor kurzem: „Im Berliner Tiergarten lassen Muslime Müll zurück.“ Den gleichen Fehler machen aber auch Menschen muslimischen Glaubens, die die Lösung all ihrer politischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Probleme dem Islam aufbürden. Unter dem verheißungsvollen Slogan al-islam huwa al-hall (Der Islam ist die Lösung) wird die Religion zu einem messianischen Versprechen, das Erwartungen projiziert, die nicht eingehalten werden können. Der Islam wird somit von Menschen nichtmuslimischen und muslimischen Glaubens zur Ideologie verzerrt oder verklärt.

Hinterfragen wir diesen imaginären Islam. Wir alle sprechen wie selbstverständlich von dem Islam. Doch welchen Islam meinen wir? Sprechen wir von der sunnitischen oder schiitischen Konfession? Von der theologischen Schule der Athariyya, der Asch’ari oder der Maturidiyya? Von der hanafitischen, malikitischen, schafi’itischen oder hanbalitischen Rechtsschule? Von Zwölfer-Schiiten, siebener Schiiten oder fünfer Schiiten? Von puritanischen Bewegungen wie dem Wahhabismus, Reformbewegungen wie jene von Muhammad Abduh, ideologische Bewegungen wie der Muslimbruderschaft, revolutionären Bewegungen wie der Hizb Al-Tahrir oder nihilistischen Bewegungen wie der Al-Qaida? Der Islam ist ein Euphemismus. Der Islam ist sicherlich kein schwarzer Monolith, sondern ein Mosaik. Ein Mosaik wie es das Judentum und das Christentum auch sind. Den Muslim gibt es ebenso wenig wie es den Juden oder den Christen gibt.

Politische Teilhabe von Muslimen
Ich habe im Verlauf dieses Wahlkampfes zwei Artikel zur SPD in muslimischen Medien geschrieben. Von einem Muslim wurde ich dafür als SPD-Muslim beschimpft. Einen meiner Artikel fand ich auf rechtslastigen Seiten wieder, wo ich als „der muslimische Sozialdemokrat“ betitelt wurde. Hier werden gewisse Ängste und Feindbilder laut, die die politische Teilhabe von Menschen muslimischen Glaubens verhindern sollen. Wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, mich persönlich zu fragen, so hätte ich ihm geantwortet, dass der Islam meine Religion, die SPD meine politische Heimat ist. Keinesfalls bin ich der muslimische Sozialdemokrat, sondern einfach ein Sozialdemokrat.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Gallup hinweisen. Diese Umfrage ergab im Mai 2009, dass Muslime eine überdurchschnittlich starke Identifizierung mit unserem Land haben. Die Presse bescheinigte den Muslimen daraufhin die Staatstreue. Die Umfrage ergab nämlich auch, dass 45 Prozent der autochthonen Bevölkerung glauben, dass Muslime gegenüber der Bundesrepublik nicht loyal sind. Solche Umfragen, sagen viel über unser Bild von den Muslimen aus, denn wir nehmen sie als die Anderen wahr. Im gleichen Maße sind auch Muslime einem DIE und WIR denken verhaftet. Genau dieses Denken müssen wir aufbrechen.

Der Islam gehört wie das Judentum und das Christentum zu den abrahamitischen Religionen. Der Islam ist auch nicht die Religion der Ausländer oder Migranten. Unter den hier lebenden 4,3 Millionen Muslimen finden sich ebenso Deutsche ohne Migrationshintergrund. Deutschland ist sowohl ein christliches, jüdisches wie muslimisches Land. Zur Normalität des Zusammenlebens gehört es, dass wir aufhören sollten, uns als Muslime/Nichtmuslime, Christen/Nichtchristen wahrzunehmen. Vielmehr sollten wir uns endlich gegenseitig als Einwohner, Bürger und Nachbarn sehen. In einer toleranten Gesellschaft darf der Name, die Hautfarbe oder die Religion kein Hindernis für politische Partizipation sein. Wir alle können stolz sein auf die Aussage des Grundgesetzes:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Indem Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen nichtchristlichen Glaubens als Bürger wahrgenommen werden und in unserem Land mitgestalten, stärken wir den 1. Artikel des Grundgesetzes. Es muss ein einlösbares Versprechen bleiben, dass in dem Einwanderungsland Deutschland eine kopftuchtragende Frau als Individuum betrachtet wird und nicht verallgemeinert wird zu einem verfassungsfeindlichen Objekt, dass ein Junge mit exotischen Namen einen Platz in unserer Gesellschaft hat und dass ein fünfmal am Tag betender Mensch nicht das Grundgesetz unter dem Arm tragen muss, um seine Loyalität zu beweisen. Aber genauso klar muss sein, dass die Ordnung in unserem Land durch das Grundgesetz bestimmt wird und dies steht nicht zur Verhandlung. Wir sind eine Gesellschaft, eine Nation. Die kommenden Herausforderungen, werden wir nur gemeinsam bewältigen können. Arbeitslosigkeit, Kinderarmut und Bildungsmisere kennen keine religiösen Barrieren.

Wenn wir Menschen muslimischen Glaubens die Möglichkeit geben, politisch mitzugestalten, wenn wir sie nicht als Maskottchen instrumentalisieren, wenn wir ihnen faire Listenplätze geben, dann werden diese zu Vorbildern für junge Muslime, die glauben, es gäbe keinen Platz für sie in unserem Land. So schaffen wir Heimatgefühl, Identifikation mit dem Land, Identifikation mit der Demokratie. In einem multireligiösen Land sollte es egal sein, ob der Bundestagsabgeordnete jüdischen, christlichen oder muslimischen Glaubens ist. Viel wichtiger ist, an welches Deutschland er glaubt. Auf keinen Fall dürfen 4,3 Millionen Menschen muslimischen Glaubens von der politischen Teilhabe ausgeschlossen werden. Wer ausgeschlossen wird, der kann kein Heimatgefühl entwickeln, zieht sich auf seine eigene Community zurück, kapselt sich ab.

Ich bin mir bewusst, dass in vielen so genannten muslimischen Ländern Christen eine solche Teilhabe verwehrt wird. Aber ich und andere Menschen muslimischen Glaubens sind nicht verantwortlich für die Politik dieser Länder, noch heißen wir sie gut. Unsere Heimat ist hier. Und wenn wir nachts träumen, dann träumen wir in deutscher Sprache. Undemokratische Länder sollten nicht unser Maßstab sein. Der athenische Staatsmann Perikles sagte einmal: „Wir ahmen nicht nach, sondern sind Vorbild für andere. Meinung

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