Leitvision statt Leitkultur

Warum die deutsche Integrationspolitik in der Zukunft scheitern wird…!

Die deutsche aber auch die europäischen Gesellschaften befinden sich bedingt durch den demografischen Wandel in einem Veränderungsprozess, der als Multikulturalisierung bezeichnet werden kann. Damit ist gemeint, dass die sozioethnischen Strukturen der deutschen aber auch der europäischen Gesellschaften nachhaltig verändert werden, da der Anteil von Migranten in der Bevölkerung zunehmen wird.

Dieses Phänomen ist inzwischen eine gesellschaftliche Realität: In immer mehr Schulklassen sitzen Kinder mit Migrationshintergrund, in den Verwaltungen und in der Polizei trifft man auf immer mehr Menschen, die einen Migrationshintergrund haben und über immer mehr Häuserdächer ragen die Minaretten von Moscheen– Veränderungen, die einheimischen Deutschen Sorgen und Ängste machen!? Vor allem aber üben diese Veränderungen einen Transformationsdruck auf die gesellschaftliche Identität aus. Die Leitkultur-Debatte war ein Ansatz, eine solche Identität zu entwickeln. Aber ist denn eine Leitkultur sinnvoll und notwendig?

Wir werden multikulturell…! Hurra!?!?
Die Ergebnisse aus der „Sozialstudie über die türkischen Akademiker und Studierenden in Deutschland (TASD-Studie)“ genießen bis heute eine ungebrochene Aufmerksamkeit und sind Gegenstand vieler Medien und Diskussionen. Erfreulich ist, dass die Studienergebnisse Anlass für kontroverse Diskussionen im öffentlichen und privaten Raum sind, in denen die Folgen der Multikulturalisierung debattiert werden. Und wieso sind die Diskussionen sehr erfreulich!?

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Wir – Deutsche und Menschen mit Migrationshintergrund – brauchen diese teils mit Spannung angeladenen und kontroversen Diskussionen, um die Zukunftsfähigkeit dieses, unseres Landes nachhaltig zu gewährleisten. Denn: Ob wir – Deutsche und Menschen mit Migrationshintergrund – wollen oder nicht, wir werden miteinander zusammenleben und – arbeiten müssen.

Der demografische Wandel hat nicht nur die Alterung und Schrumpfung der deutschen Gesellschaft zur Folge sondern auch ihre Multikulturalisierung. Dies soll heißen, dass die sozioethnische Struktur der deutschen Gesellschaft sich in der Zukunft nachhaltig verändern wird. Diese Veränderung wird nicht alleine durch die bereits hier in Deutschland lebenden MigrantInnen bewirkt.

Es stimmt zwar, dass insbesondere in den Metropolregionen der Anteil von 10jährigen Kindern mit Migrationshintergrund in Stadtbevölkerungen über 30% in manchen Regionen sogar über 40% beträgt. Dies jedoch ist nur die eine Seite der Medaille.

Die sozioethnische Veränderung der deutschen aber auch europäischen Gesellschaft wird auch durch die globale Bevölkerungsentwicklung verstärkt. Während die Gesellschaften in der nördlichen Hemisphäre des Globus‘ schrumpfen werden, kann in der südlichen Hemisphäre ein Bevölkerungswachstum beobachtet werden. Behausung, Arbeit und Nahrungsmittel werden im „Süden“ immer knapper. Dies sind Push-Faktoren, die immer mehr Menschen aus dem „Süden“ in den „Norden“ drängen werden.

Es gibt noch ein dritter Aspekt zur „Multikulturalisierung“: der Fachkräftemangel. Diejenigen, die zweifeln, dass es gegenwärtig keinen Fachkräftemangel gäbe, haben Recht. Der Fachkräftemangel, über den heute diskutiert wird, betrifft nur wenige Branchen. Seine Ursachen sind darin zu finden, dass die deutsche Bildungspolitik in der Vergangenheit versäumt hat, die benötigten Qualifikationen bedarfsgerecht auszubilden. Der Fachkräftemangel heute hat also strukturelle Ursachen.

Der durch den demografischen Wandel bedingte Fachkräftemangel steht uns – Deutschen und Menschen mit Migrationshintergrund – noch bevor: Ab dem Jahr 2020 werden immer mehr Erwerbstätige aus den Baby-Boom-Jahren in die Rente gehen. Das durchschnittliche Alter der Erwerbstätigen wird daraufhin – mehr oder weniger – schlagartig steigen. Gleichzeitig bildet Deutschland zu wenige (akademische) Fachkräfte aus, um diesen Bedarf kurzfristig decken zu können. Aber auf dem Weg in eine wissensbasierte Ökonomie wird Deutschland dringend Akademiker benötigen. Deutschland muss in den folgenden Jahrzehnten Einwanderung zulassen, wenn sie die Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit seiner Wirtschaft aufrecht erhalten und vor allem ausbauen möchte. 

Diese abstrakten Vorgänge zur Multikulturalisierung der deutschen aber auch europäischen Gesellschaften sind inzwischen kein Phänomen mehr, das auf dem Papier steht. Sie kann inzwischen erlebt, beobachtet und erfahren werden.

In Städten wie Duisburg, Dortmund, Berlin oder Frankfurt existieren Stadtteile, in denen scheinbar nur Ausländer zu wohnen scheinen. Ein deutscher Bekannter, den ich zum Essen in einem Restaurant in Dortmund-Nordstadt eingeladen habe, witzelte, dass er nicht wusste, mit welcher Währung er hier bezahlen müsste, als er in die Münster Straße einbog. In der einen oder anderen Stadt ragen über den Häuserdächern die Minaretten von Moscheen. In den vergangenen Jahren wurden Altenheime und ambulante Pflegedienste gegründet, die Migranten zur Zielgruppe haben. Ab und an sieht man in der Verwaltung oder bei der Polizei den einen oder anderen Menschen, aus dessen äußerlichem Erscheinen und Namen ableiten kann, dass es sich um einen Migranten handelt. Zu meiner Zeit haben die Kinder das Lesen, Schreiben und Rechnen am Beispiel vom Hans, Christian oder Claudia gelernt. In den Schulbüchern heute erklären neben Hans und Claudia auch Ali und Ayse den Schülerinnen und Schüler Mathematik- und Grammatikregeln. In diversen Parlamenten sitzt inzwischen eine ganze Reihe von Abgeordneten, die einen Migrationshintergrund haben. Mit Cem Özdemir steht erstmals ein türkischstämmiger Politiker einer deutschen Partei vor. Vor einigen Wochen habe ich in einer türkischsprachigen Zeitung von einem deutsch-türkischen Arzt in der Bundeswehr gelesen, der einen Afghanistan-Einsatz absolvierte.

Kurzum: Die Multikulturalisierung der deutschen Gesellschaft ist nicht mehr ein abstraktes sondern inzwischen ein greifbares und erlebbares soziales Phänomen, das an den Artefakten der Gesellschaft erkannt werden kann.

Leserinnen und Leser mit Migrationshintergrund können sich dieser Entwicklung erwärmen und freuen sich gar hierüber. Ich persönlich mag es, wenn ich mich nach meinem Feierabend mit einem meiner besten Freunde in unserem Lieblings-Restaurant oder –Cafe in Dortmund-Nordstadt treffe. Ich mag die orientalischen Klänge, die Düfte von starken Gewürzen oder den süßen Rauch von Wasserpfeifen, die Phonetik der arabischen Sprachen, die aus den türkischen, lybischen, marrokanischen und kurdischen Cafes, Restaurants, Boutiques und Einkaufsläden hinausströmen. Während ich in einer Pizzeria auf meine Bestellung warte, genieße ich die italienische Musik. Ich gehe langsamer, wenn ich vom Weiten eine Sprache höre, die ich der Russischen einordne, weil ich neugierig auf sie bin. Und vor allem lasse ich mich sehr gerne von dem Geräusch ablenken, der entsteht, wenn die kleinen Würfel auf das Backgammon-Brett aufschlagen.

Mir ist aber bewusst, dass dies jedoch eine zu einseitige Wertung von mir ist. Wichtig ist auch daher die Frage, wie die einheimischen Deutschen, also Deutsche ohne Migrationshintergrund, diese Entwicklungen und Veränderungen wahrnehmen.

Die Studie „Zuwanderer in Deutschland“ des Allensbach-Instituts im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigt auf, dass einerseits der Kontakt zwischen den Zuwanderern und den Deutschen in den letzten Jahren zugenommen hat, aber zwischen diesen Bevölkerungsgruppen andererseits weiterhin Skepsis existiert. Eine andere Studie, die von Prof Dr. Detlef Pollack aus Münster geleitet wird, führt das Ergebnis vor, dass in der deutschen Bevölkerung Ängste existieren, durch Religionsvielfalt die eigene Identität zu verlieren.

Diese Ängste, Verunsicherungen und Sorgen, die nicht nur auf der Seite der einheimischen Deutschen zu finden sind, müssen ernst genommen werden. Denn: Ob wir – Deutsche und Menschen mit Migrationshintergrund – wollen oder nicht, wir werden in der Zukunft zusammenleben und –arbeiten müssen. Die sozioethnische Veränderung der deutschen Gesellschaft (Multikulturalisierung) ist fortgeschritten und ohne die Aufgabe oder zumindest Relativierung der demokratischen Staatsordnung eine irreversible soziale Realität. Gleichzeitig scheinen wir – Deutsche und Menschen mit Migrationshintergrund – keine Vorstellung davon zu haben, wie eine solche deutsche Gesellschaft in Zukunft aussehen soll. Vor einigen Jahren unternahmen einige politische Akteure insbesondere die CDU den ernüchternden Versuch mit einer „deutschen Leitkultur“ zumindest ihre Vorstellung zum Ausdruck zu bringen.

Die „deutsche Leitkultur“: Ist doch nicht Euer ernst, oder!?!
Der deutsch-syrische Politikwissenschaftler Bassam Tibi prägte Ende der 1990er Jahre den Begriff der Leitkultur, der von deutschen Publizisten, Intellektuellen und Politikern als deutsche Leitkultur erweitert wurde. An dieser Stelle muss hervorgehoben werden, dass Bassam Tibi von jenen falsch verstanden wurde, die seine Überlegungen aufgegriffen und erweitert haben. In manchen Fällen wurde sein Ansatz im ehrgeizigen oder übereilten Bestreben, ihn politisch anzuwenden, pervertiert.

Pessimistisch formuliert, hat die Leitkultur-Debatte in Deutschland damals einer neuen rechten Bewegung die Tür in die Mitte der Gesellschaft geöffnet. Da Ideen erblühen und sich einem harten, konfrontären Diskurs in der Gesellschaft stellen müssen, bis hieraus ein Konsens und damit eine Säule einer Gesellschaftsordnung werden kann, kann auch optimistisch formuliert werden, dass die deutsche Leitkultur-Debatte ein wichtiger (pädagogischer) Zwischenschritt auf dem Weg einer neuen deutschen und europäischen Identitätsbildung war.

Denn genau dies ist, was wir – Deutsche und Menschen mit Migrationshintergrund – für eine gemeinsame Zukunft benötigen: einen konsensualen Wertekonstrukt, dem ein gesellschaftspolitischer Diskurs vorangehen muss. Die Multikulturalisierung der deutschen und europäischen Gesellschaften, also die Veränderung ihrer sozioethnischen Struktur, übt einen Transformationsdruck auf die deutsche und europäische Identität aus.

Bassam Tibi’s Postulat der Leitkultur und ihre politisch pervertierte Version der deutschen Leitkultur sind nicht ausreichend und müssen eher als historische Zäsur verstanden werden. Der Begriff der Leitkultur, so richtig der Ansatz von Bassam Tibi auch gewesen sein mag, unterstellt im gewissen Maße die Unterordnung einer ethnischen Minderheit der Mehrheitsgesellschaft gegenüber. Die politische Version dieses Begriffs postuliert implizit gar Assimilation.

So sehr die Autoren und Befürworter der deutschen Leitkultur an dieser Stelle widersprechen möchten, dass sie nie Assimilation gefordert haben, so muss diesen auch klar werden, dass dies von Angehörigen der ethnischen Minderheiten in Deutschland in dieser Weise verstanden wurde. In der Kommunikation ist nicht wichtig, was gesagt wurde, sondern was der Empfänger der Botschaft verstanden hat. Soziale Kommunikation ist immer die Kommunikation von Missverständnissen. Und der ihr zugrundeliegende Prozess hat die Aufgabe, den Zustand des Konsens‘ zu erreichen. Mit anderen Worten: Dass es Missverständnisse gab, ist in Ordnung. Wir müssen aber nach vorne schauen!

Die Diskussion muss fortgesetzt werden!
Die Diskussion über Integration wurde bis zum Jahr 1998 jenseits der gesellschaftlichen Entscheidungsmechanismen und politischen Institutionen geführt:

Bis dahin wurde diese Diskussion unter falschen Paradigmen – ja sogar mit voreingenommenen Erwartungen und falschen Hoffnungen – geführt. Beispielsweise wurde die Realität, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, stets abgestritten. Sie wurde mit Ersatzbegriffen wie Integrationsland, Zuwanderungsland oder De facto-Zuwanderung verschleiert. Darüber hinaus herrschte sowohl auf Seiten der Deutschen als auch der Migranten bis Mitte der 1990er Jahren die feste Überzeugung, dass die Gastarbeiter in ihre Heimatländer zurückkehren werden, obgleich das Verhalten beider widersprüchlich war.

Das Konsum- und Sparverhalten der Migranten war zwar auf dieses Ziel der Rückkehr ausgerichtet. Zugleich aber haben sie im Rahmen von Familienzusammenführungen und ihrem Heiratsverhalten eine soziales Netz geschaffen, das immer mehr in das institutionelle System Deutschlands (Schule, Arbeit, bürgerschaftliches Engagement usw.) eingebettet wurde. Auf der anderen Seite haben die deutschen Institutionen die Gastarbeiter stets als Gäste deklariert und diesen dem Charakter eines zeitweiligen sozialen Phänomens zugewiesen. Jedoch haben sie gleichzeitig im Rahmen ihres ordnungspolitischen Auftrags eine ungewollte oder unbeabsichtigte Integration betrieben, indem sie sich um Bildung, wirtschaftliche Versorgung, Gesundheit usw. dieser Gäste gekümmert haben.

Die voreingenommene Sicht dieser beiden Gruppen haben dazu geführt, dass die Diskussion um Integration und Migration bis tief in die 1990er Jahre außerhalb der politischen Institutionen geführt, da die Notwendigkeit einer solcher inhaltlichen Auseinandersetzung ignoriert wurde. Um sowohl die Herausforderungen in der Integration und Migration zu bewältigen als auch eine gemeinsame Identität zu entwickeln, muss diese Diskussion institutionalisiert werden.

Wir brauchen einen konsensualen Wertekonstrukt
Die rot-grüne Regierung hat 1998 mit ihrer Integrationspolitik einen ersten, wichtigen Beitrag hierzu geleistet. Die schwarz-rote Regierung, die auf sie folgte, hat diese Entwicklung nicht nur konsequent fortgesetzt. Mehr noch – sie hat auch mit der Islamkonferenz und dem Integrationsgipfel erstmals institutionelle Verhandlungsarenen geschaffen, in denen alle Betroffenen in einen Prozess des gemeinsamen Dialogs eingetreten sind, um ebenfalls gemeinsam Lösungswege zu finden.

Meines Erachtens werden die Möglichkeiten dieser gesellschaftspolitischen Verhandlungsarenen aber nicht ausreichend ausgeschöpft. Zweifelsohne haben die Islamkonferenz und der Integrationsgipfel beachtliche Ergebnisse in kurzer Zeit geleistet. Es scheint aber nicht erkannt worden zu sein, dass diese beiden Verhandlungsarenen wichtige Institutionen darstellen, in denen die vom Bassam Tibi angestoßene Diskussion der Leitkultur sinnvoll fortgesetzt und zu einem gesellschaftsweiten Konsens geführt werden könnte. Der Begriff der Leitkultur wäre aber in diesem Fall aufgrund seiner Vorbelastungen durch die kontroversen Diskussionen deplatziert. Angesichts der Tatsache aber, dass wir – Deutsche und Menschen ohne Migrationshintergrund – in der Zukunft zusammenleben und –arbeiten müssen, ist es wichtig, dass diese Diskussion auf gleicher Augenhöhe geführt wird.

Benötigt wird daher ein Leitbild im Sinne einer langfristigen, strukturierten, strategischen Zielvorstellung oder eine Vision im Sinne einer langfristigen (Selbst-) Bewusstseinsentwicklung. Nein, vielmehr benötigen wir eine Leitvision! Es muss uns – Deutschen und Menschen mit Migrationshintergrund – gelingen, sowohl ein gemeinsames (Selbst-) Bewusstsein zu entwickeln als auch einen langfristigen, strukturierten Fahrplan zu entwickeln, um den Zustand einer gemeinsamen Identität zu entwickeln.

Die Islamkonferenz als auch der Integrationsgipfel sind zwei Verhandlungsarenen, in denen eine solche Diskussion eröffnet werden kann und auch muss. Gelingt uns – Deutschen und Menschen mit Migrationshintergrund – nicht, den Prozess des (Selbst-) Bewusstseins zu eröffnen, um hierauf eine gemeinsame Identität auf der Grundlage eines konsensualen Wertekonstrukts zu entwerfen, dann besteht in der Tat die Gefahr, dass die deutsche Integrationspolitik in der Zukunft scheitern wird.

Eine solche Leitvision muss formuliert werden, damit sie auch an alle Betroffenen kommuniziert werden kann. Es ist immer ein schwieriges Unterfangen auf einem weißen Papier den ersten Satz zu formulieren. Aber wie wäre es mit… „Wir sind ein Volk.