Ehegattennachzug

Vor dem Visum

Eine Sprache zu erlernen heißt immer sich selbst zu dezentrieren. Es bedeutet, das Andere in sich zu erkennen, sich mit der Fremdheit vertraut zu machen und sich in ihr zu verorten. Seit nunmehr anderthalb Jahren lässt Deutschland seine Migranten deutsch lernen, um ihre kulturelle Kompetenz zu stärken. Konkret heißt das, dass die Einreisewilligen für Monate zu Lernmaschinen werden.

Von Vicky Marie Eichhorn Freitag, 21.08.2009, 6:55 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.09.2010, 0:15 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Montag, 8:00 Uhr, Nusaybin. Meine 18 Schülerinnen und Schüler sitzen auf ihren Bänken, die einen verschlafen, die anderen aufmerksam. Sie sind zwischen 17 und 28 Jahre alt, ein Fünftel ist männlich. Ein Schüler hat studiert, vier Schülerinnen sind Analphabetinnen. Sie kommen aus der umliegenden Gegend, von Mardin über Midyat bis Sirnak. Die jungen Frauen sind in einer Art Internat untergebracht, viele von ihnen zum ersten Mal für längere Zeit von ihrer Familie getrennt. Hierdurch avanciert der Deutschkurs für sie zu einer wichtigen Zwischenstation auf dem Weg in die Selbständigkeit.

Gleich erzählen meine Schülerinnen und Schüler mir, was sie am Wochenende gemacht haben: schlafen, essen, lernen, spazieren gehen – soviel können sie nach vier Wochen. Ich bin für die meisten von ihnen die erste indigene Deutsche, eine interkulturelle Konfrontation. Sie fragen mich, warum ich unverheiratet bin und keine Kinder habe. Außerdem trinke ich Bier. Ich frage, warum sie es so eilig mit dem Heiraten haben und als was sie später einmal arbeiten möchten. Die Situation löst eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Anderen aus. So erhalten sie einen ersten Einblick in deutsches Leben, bevor sie vor Ort sind. Auf diese Weise wird zudem Sozialarbeit geleistet: Anhand von Fallbeispielen erzähle ich ihnen sukzessiv und subtil von ihren Rechten in Deutschland.

___STEADY_PAYWALL___

Gleichsam bin ich für sie eine hermeneutische Herausforderung. In den Pausen verständigen wir uns mit Händen und Füßen, im türkischkurdischdeutschen Kauderwelsch. Meine Schülerinnen und Schüler sind rege, sie wollen sich mitteilen und wo ein Wille ist, ist Kreativität. Geglückte Kommunikation, die Erfahrung, das Gelernte praktisch anwenden zu können, stärkt ihr Selbstbewusstsein. Hier, in den Pausen oder wenn wir uns abends zum Lernen treffen, findet selbstgesteuertes und inkorporiertes Lernen statt.

Ein Deutschkurs im türkischen Sanliurfa, ca. 250 westlich von Nusaybin.
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=BjL7jsuYPNs[/youtube]

Im Unterricht bleibt dafür allerdings keine Zeit. Immerhin sollen sie am Ende des Kurses, der in Kooperation mit einem vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zugelassenen Integrationskursträger angeboten wird, rund 700 deutsche Worte passiv verstehen und 300 aktiv anwenden können. Sie lernen die Artikel, Dativ, Akkusativ, die Verben im Präsens, auch die unregelmäßigen; dazu Syntax und Präpositionen. Sie sollen sich zu den Themen Wohnen, Arbeit, Freizeit, Einkaufen, Verkehr und Gesundheit äußern können. Fünf bis sechs Tage pro Woche sitzen sie sieben Stunden am Tag im neugebauten Klassenzimmer, bei 40 Grad. Die Klimaanlage im Raum verkommt wegen der häufigen Stromausfälle zu einer Metapher von einem weniger beschwerlichen Leben. Nachmittags machen sie Hausaufgaben, abends lernen sie Vokabeln. Das Pensum übersteigt ohne weiteres die deutsche 38,5 Stunden-Woche. Der Kurs ist teuer, der Druck auf meine Schülerinnen und Schüler enorm hoch. Gesellschaft Meinung

Seiten: 1 2

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)