Visumsfreiheit für Türken

Soysal-Urteil bringt Regierung in Bedrängnis

In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion (BT-Drs. 16/12743), die der MiGAZIN-Redaktion vorliegt, räumt die Bundesregierung ein (BT-Drs. 16/13327), dass zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Türkei, d.h. zum 1. Januar 1973, auch im Rahmen des Dienstleistungsempfangs selbst eine Einreise und ein Aufenthalt von mehr als drei Monaten visumfrei möglich war.

Sevim Dagdelen, migrationspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Die Linke, hält das Eingeständnis der Bundesregierung deshalb für brisant, „weil nach dem Soysal-Urteil Verschärfungen der Visumbestimmungen im Bereich der Dienstleistungsfreiheit seit 1973 mit dem Zusatzprotokoll des Assoziierungsabkommens unvereinbar sind.“

Die alten Regelungen seien mithin weiter gültig. Bis zum Inkrafttreten des Zusatzprotokolls sei eine Einreise und ein Aufenthalt von mehr als drei Monaten im Rahmen des Dienstleistungsempfangs unter den Bedingungen von § 5 Abs. 1 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) visumsfrei möglich. Im entsprechenden Eintrag des offiziellen Visumshandbuchs des Auswärtigen Amtes, das vom Bundesinnenministerium mitgezeichnet worden sei, finde sich zur Umsetzung der Soysal-Entscheidung zu dieser Rechtsgrundlage aber nichts. Stattdessen werde auf § 1 Abs. 2 DVAuslG Bezug genommen – mutmaßlich, um zum gewünschten Ergebnis kommen zu können.

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„Um das Soysal-Urteil nicht auf Besuchsreisende sowie Touristinnen und Touristen aus der Türkei anwenden zu müssen, behauptet die Bundesregierung, die passive Dienstleistungsfreiheit sei durch das Assoziationsrecht nicht geschützt. Sie stützt sich dabei lediglich auf einen Beschluss der 34. Kammer des Berliner Verwaltungsgerichts. Unerwähnt bleiben die Mehrheitsmeinung in der Rechtswissenschaft, die Kommentarliteratur und gegenteiligen Entscheidungen anderer Gerichte.“, so Dagdelen.

Zuletzt führte am 29. April 2009 das Amtsgericht Erding in seiner Urteilsbegründung aus, dass weder das Soysal-Urteil noch das Zusatzprotokoll eine Trennung in aktive und passive Dienstleistungsfreiheit vorsehe. Es sei ‚lebensfremd’ das Soysal-Urteil mit einer solchen Begründung nicht auf türkische Touristinnen und Touristen anzuwenden.

Dagdelen abschließend: „Ich fordere die Bundesregierung auf, die juristischen Tricksereien bei der Umsetzung des Soysal-Urteils einzustellen und Menschen aus der Türkei zu Besuchs- und touristischen Zwecken endlich eine visumfreie Einreise zu ermöglichen – wie es seit fast 30 Jahren hätte der Fall sein müssen.“

2.000.000 Visumsanträge in den Jahren 2000 bis 2008
In einer früheren Anfrage der Linksfraktion hatte die Bundesregierung auf die Frage, wie viele Visumanträge türkischer Staatsangehöriger im Jahr 2008 bzw. in den Jahren 1973 bis heute versagt wurde, geantwortet 1, dass die Bundesregierung keine Gesamtzahlen von abgelehnten Visumanträgen für bestimmte Staaten bekanntgibt. Die Bekanntgabe dieser Zahlen in Visumangelegenheiten könne nachteilige Auswirkungen auf die jeweiligen bilateralen Beziehungen haben.

In der nun vorliegenden Antwort, teilt die Bundesregierung auf Nachfrage der Linksfraktion zumindest die Zahl der gestellten Visumsanträge mit, die in der Türkei gestellt wurden. So seien in den Jahren 2000 bis 2008 rund zwei Millionen Visumsanträge gestellt worden. Wie viele dieser Anträge abgelehnt wurden, teilt die Bundesregierung nicht mit.

Außerdem seien in den Jahren 2005 bis 2007 über 3.500 türkische Staatsbürger wegen einer Straftat nach § 95 Aufenthaltsgesetz verurteilt worden, in der unter anderem die illegale Einreise und der illegale Aufenthalt unter Strafe gestellt ist. Sowohl die gestellten Visanträge in der Türkei als auch die Verurteilungen türkischer Staatsbürger in Deutschland wegen illegaler Einreise bzw. illegalen Aufenthalts sind vor dem Hintergrund interessant, als das Deutschland möglicherweise seit 1973 zu Unrecht Visagebühren erhoben und sich durch unrechtmäßige Verurteilungen schadensersatzpflichtig gemacht haben könnte.

20 anhängige Visumverfahren
Schließlich, so die Bundesregierung, seien am Verwaltungsgericht Berlin und Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg zurzeit 20 Verfahren in Visumsangelegenheiten anhängig, in denen sich die Kläger bzw. Antragsteller für eine Visumsbefreiung auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache „Soysal“ berufen.

  1. Antwort auf die Frage 13