Visumfreiheit

Innenministerium konkretisiert Auswirkungen des Soysal-Urteils

Das Bundesministerium des Innern hat in einem Ministerialerlass an die Bundespolizei die Auswirkungen des sog. Soysal-Urteils des EuGH konkretisiert. Neben Lkw-Fahrern, Montage- und Instandhaltungsarbeitern werden auch Künstler und Sportler von der Visumspflicht befreit.

Dienstag, 19.05.2009, 7:09 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.09.2010, 3:08 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Das Bundesministerium des Innern hat mit einem vom 6. Mai 2009 datierten Ministerialerlass an die Bundespolizei die Auswirkungen des sog. Soysal-Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) konkretisiert.

Das Soysal-Urteil
Der EuGH hatte in dem o.g. Urteil vom 19. Februar 2009 (AktZ: C-228/06) entschieden, dass das Zusatzprotokoll vom 23.11.1970 zum Assoziationsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei vom 12.9.1963 dahingehend auszulegen ist, dass diese Vorschrift es verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ein EU-Mitgliedsstaat zu verlangen, wenn er Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen will, sofern ein solches Visum zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls (1.1.1973 in Deutschland) nicht verlangt wurde.

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Zur Begründung verwies der EuGH auf die festgelegte Pflicht der Vertragsparteien, „keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen“ (sog. Stillhalteklausel).

Die Konsequenzen
In dem nun vorliegenden Erlass teilt das Innenministerium mit, dass türkische LKW-Fahrer von der Visumpflicht befreit sind, wenn sie als Arbeitnehmer eines Arbeitgebers mit Sitz in der Türkei grenzüberschreitende LKW-Fahrten in Deutschland durchführen, sich nicht länger als zwei Monate im Bundesgebiet aufhalten und die angestrebte Transportleistung rechtmäßig erbringen können.

Des weiteren habe die Bundesregierung im Detail geprüft, welche weiteren Formen der Dienstleistungserbringung durch türkische Staatsangehörige im Lichte des „Soysal“-Urteils von der Visumpflicht zu befreien sind, und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass türkischen Staatsangehörigen für eine Aufenthaltsdauer von bis zu zwei Monaten eine visumfreie Einreise zu ermöglichen ist, wenn sie rechtmäßig

  • durch Arbeitgeber mit Sitz in der Türkei mit Montage-und Instandhaltungsarbeiten sowie Reparaturen an gelieferten Anlagen und Maschinen beschäftigt werden,
  • durch Arbeitgeber mit Sitz in der Türkei als fahrendes Personal im grenzüberschreitenden Personen-bzw. Güterverkehr eingesetzt werden oder
  • in Vorträgen oder Darbietungen von besonderem wissenschaftlichen oder künstlerischen Wert oder bei Darbietungen sportlichen Charakters in kommerzieller Absicht tätig werden wollen.

Konsequenzen in Bezug auf die Visumpflicht weiterer Personengruppen seien aus Sicht der Bundesregierung nicht veranlasst. Insbesondere folge aus dem „Soysal“-Urteil kein Recht türkischer Staatsangehöriger auf eine visumfreie Einreise nach Deutschland zum Zweck des Empfangs von Dienstleistungen (sog. passive Dienstleistungsfreiheit), beispielsweise als Touristen.

Nunmehr werde nach Möglichkeiten einer praktikablen Umsetzung der Visumfreiheit für diese Personen ermittelt. Bis zum Abschluss der Prüfung bleibe es für diese Gruppe beim bisherigen Visum-und Grenzregime.

Die Kritik
Zuvor hatten zahlreiche Rechtsexperten das Soysal-Urteil des EuGH dahingehend ausgelegt, dass aus der Urteilsbegründung nicht nur die aktive sondern auch die passive Dienstleistungsfreiheit folgt mit der Konsequenz, dass auch türkische Touristen visumsfrei einreisen können.

In zahlreichen Anfragen sowohl der Grünen als auch der Linksfraktion im Bundestag hatte die Bundesregierung sich auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Rechtsexperten nicht eingelassen. Stattdessen hatte die die Bundesregierung mit zum Teil widersprüchlichen Aussagen (wir berichteten) zur allgemeinen Verwirrung beigetragen. Auch der nun vorliegende Erlass umgeht die Frage der passiven Dienstleistungsfreiheit weitestgehend und beschränkt sich lediglich auf eine kurze Feststellung mit einer äußerst dünnen Begründung, was als Zeichen dafür gewertet wird, dass die Bundesregierung mit ihrer Position allein steht und sich Argumentativ auf sehr dünnem Eis bewegt.

Download: Veraltungsvorschrift zu den Auswirkungen der Standstillklausel des Art. 41 Zusatzprotokoll auf die Einreisefreiheit türkischer Staatsangehöriger auf Migrationsrecht.net

Außerdem ist der Hinweis in dem nun vorliegenden Erlass, dass bis zum Abschluss der Prüfung der Möglichkeiten einer praktikablen Umsetzung keine visumfreie Einreise erfolgen kann, äußerst problematisch, da die Bundesregierung die Visafreiheit für bestimmte Personen anerkennen musste und infolge dessen eine Zurückweisung an der Grenze nicht mehr gerechtfertigt ist. Dr. Klaus Dienelt, Experte für Ausländerrecht, weist darauf hin, dass eine Verzögerung der verfahrensrechtlichen Umgesetzt nicht als Grund herhalten kann, türkischen Staatsbürgern das Recht auf visumsfreie Einreise vorzuenthalten. „Es bleibt zu hoffen“, so Dienelt „dass die Grenzbeamten in dieser Situation Ausnahmevisa ausstellen, um den europarechtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen.“ Recht

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  1. delice sagt:

    Diese Verwaltungsvorschrift, gelesen auch nur im Überflug, ist eigentlich und im Grunde schon von Anfang her (völlig) nichtig. Denn es fehlt überhaupt der rechtlich gültige Rahmen! Es widerspricht nicht nur gegen die Grundsätze des Urteils des EuGH selbst, sondern auch dessen Geist, der sich konkret auch aus den gemachten, unterschriebenen und für wahr akzeptierten und erklärten Verträgen sich (heraus) ableistet und ableiten lässt!

    Zunächst sollten wir aber einmal den Begriff der Dienstleistung konkret definieren dürfen:

    Den freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der Gemeinschaft, genauer innerhalb des Binnenmarktes in irgendeiner Hinsicht zu beschränken ist nach Art. 49 Abs. EG absolut verboten, weil dieser Begriff zudem denkbar ein weiter Begriff ist. Dazu auch zunächst einmal der Art. 50 Abs. 1 EG (EGV) konkret vorgetragen:

    „Artikel 50 EG (ex-Art. 60)
    Dienstleistungen im Sinne dieses Vertrags sind Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen.
    Als Dienstleistungen gelten insbesondere:

    a. gewerbliche
    b. kaufmännische Tätigkeiten,
    c. handwerkliche Tätigkeiten,
    d. freiberufliche Tätigkeiten.

    Unbeschadet des Kapitels über die Niederlassungsfreiheit kann der Leistende zwecks Erbringung seiner Leistungen seine Tätigkeit vorübergehend in dem Staat ausüben, dem die Leistung erbracht wird, und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Staat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt.“

    Die Exemplifikation (der Interpretationsvorgang) im Absatz 2 ist auch nicht abschließend und ausschließlich. Allein der Begriff „gewerbliche Tätigkeiten“ ist an sich schon uferlos und grenzenlos; denn er fast alles menschliche Handeln soweit es eben irgendwie erwerblich ist. Hier sind ausschließlich eventuell ausgenommen nur die Tätigkeiten von Arbeitnehmern im EU-Raum, die natürlich auch nach deutschem Arbeitsrecht dann Weisungsgebunden sind, aber ihre Grundfreiheiten werden in der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 39 ff. EG aufgeführt. Zusätzlich macht auch nur ein staatliches Handeln, das nur von der Staatsgewalt selbst ausgeübt werden kann, hier eine weitere Ausnahme. Das Lebensprinzip der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und seit neuesten als Europäischen Union (EU), ist ihre liberale Wirtschaftsverfassung bzw. das Marktprinzip im Binnenmarkt, ist somit der Markt.

    Das EuGH legt die Dienstleistungsfreiheit traditionell weit aus (Siehe auch Rechtssache Luisi und Carbone), in dem auch der Leistungsempfänger grenzüberschreitend zum Leistungserbringer begibt (negative oder passive Dienstleistungsfreiheit), darunter fällt dann auch etwa ein Arztbesuch, Studien- und Geschäftsreisen, Kuraufenthalt und der Tourismus; EuGHE 1984, 377, Rdn. 12; 2003, I-721, Rdn. 12).

    Weiterhin hat der EuGH entschieden, dass die Dienstleistungsfreiheit auch dann herangezogen werden muss, wenn lediglich die Leistung die Grenze überschreitet (Korrespondenzdienstleistungen, etwa von Versicherungs- oder Bankgeschäften, Rundfunk, Fernsehen, telefonische Angebote von Warentermingeschäften; EuGHE 1974, 1409, Rdn. 6; 1995, I-1141, Rdn. 21)).

    In der Fremdenführerentscheidung hat der Gerichtshof sogar entgegen dem Wortlaut des Art. 50 Abs. 3 EG entschieden, dass die Dienstleistungsfreiheit maßgeblich sei, wenn sich sowohl Dienstleistungserbringer als auch Dienstleistungsempfänger gemeinsam in einem anderen Mitgliedstaat begeben würden (EuGHE 1991, I-659, Rdn. 10 ff.). Sogar die Leistungserbringung in einem Drittstaat soll dabei genügen dürfen, wenn beide Vertragspartner in der Gemeinschaft (dauerhaft) ansässig sind.

    Unmittelbare Anwendbarkeit aus Art. 49 EG hat das EuGH sogar entgegen dem EG-Vertrag durchgesetzt. Jeder habe sich somit, vor den nationalen Gerichten, auf die Dienstleistungsfreiheit berufen können, weil diese nach der Rechtsprechung des EuGH, die Übergangszeit abgelaufen wäre (31. Dezember 1969. Vgl. Art. 7 EWGV), und mit dem Ablauf so eine unmittelbare und unbedingt anwendbare Norm dadurch entwickelt gewesen sei, obwohl der Wortlaut erst seit dem Amsterdamer Vertrag als Beschränkungsverbot formuliert ist (EuGHE 1974, 1299, Rdn. 10, 12, 23). Vorher war die Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs nämlich gar nicht nicht verboten, sondern die einzelnen Mitgliedsstaaten hatten sich (völkerrechtlich) nur verpflichtet, die Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs während der Übergangszeit schließlich aufzuheben.

    „Unter dem Beschränkungsverbot, deren Beseitigung die Art. 49 und 50 vorsehen, fallen alle Anforderungen, die an den Leistungen namentlich aus den Gründen seiner Staatsangehörigkeit oder wegen Fehlens eines ständigen Aufenthalts in dem Staate, in dem die Leistung erbracht wird, gestellt werden und nicht für im Staatsgebiet ansässige Personen gelten oder in anderer Weise geeignet sind, die Tätigkeit des Leistenden zu interbinden oder zu behindern“ (EuGHE 1974, 1299, Rdn. 10, 12).

    Als Beschränkung gelten der Dienstleistungsfreiheit beispielsweise nationale Regelungen, welche an besondere Kenntnisse oder Qualifikationen anknüpfen. Solche Regelungen sind mit der Dienstleistungsfreiheit aber gar nicht mehr vereinbar, wenn sie nicht zwingend zum Zwecke des Allgemeinwohls nach Inhalt und Ausmaß erforderlich sind (EuGHE 1974, 1299, Rdn. 10, 23). Die faktische Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit ist also (neben der rechtlichen), sei es real oder auch nur potentiell, verboten, wenn sie nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, die wiederum der Europäische Gerichtshof selbst definiert, gerechtfertigt werden kann, nicht anders als nach dem Gemeinschaftsrecht des freien Warenverkehrs eben!

    Dieser obige Beitrag zur freien Dienstleistungsfreiheit fußt auf den Erkenntnisstand und den Ausführungen von Herrn Prof. Dr. Karl Schachtschneider!

    Ergänzend hierzu auch ein weiterer Gedankenansatz von mir selbst:

    Mit in diese ganzen Normsetzungen hat das EuGH nicht einmal die Beziehungen der Republik Türkei als Vollmitglied der Zollunion geklärt. Denn auch die Türkei gehört seit dem Jahre 1985 nach der Definition des freien Waren-, Kapital- und Dienstleitungsverkehrs auch zum Binnenmarkt der EU! Was also für die Waren, das Kapital und die Dienstleistung aus der Türkei gilt, darf ja auch für die Menschen aus der Türkei gelten! Damit erübrigt sich jede noch so abwegige Diskussion um die Ein- und Beschränkungen um die Visafreiheit für türkische Staatsbürger! Alle Gegenteiligen Behauptungen sind denn auch nur noch mit einem weiteren Begriff erklärbar, nämlich des offenen Rassismus gegen Menschen aus der Türkei!