EuGH

Kein Zwang zur Arbeit für Assoziationsberechtigte Familienangehörige

Der EuGH hat erneut die Rechtstellung von Familienangehörigen von türkischen Arbeitnehmern mit seinem Urteil vom 25.09.2008 in der Rechtssache Hakan Er (Rs. C 453/07) gestärkt. Die Konsequenzen dieses Urteils werden zum Schluss aufgezeigt. Aus meiner Sicht ist diese mutige Entscheidung des EuGH eine schallende Ohrfeige für diejenigen, die misslungene Integration nicht dadurch bekämpfen, dass die Ursachen bekämpft werden, sondern die Betroffenen selbst. Ausgangspunkt des Verfahrens war die Vorlage des Verwaltungsgerichts Gießens.

Sachverhalt:
Der Kläger zog im Alter von 2 Jahren nach Berlin zu seinem Vater, der dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörte. Mit diesem lebte er mindestens fünf Jahre im Bundesgebiet zusammen. Er beantragte im Jahr 1998 erstmals eine Aufenthaltserlaubnis, die ihm für die Dauer von anderthalb Jahren erteilt wurde. Im Jahr 2000 verließ Herr Er im Alter von 16 Jahren die Schule ohne Abschluss.

Sein Aufenthaltserlaubnis wurde bis zum 21. März 2002 verlängert. Er beantragte im Jahr 2002 erneut eine Aufenthaltserlaubnis, die ihm mit Gültigkeit bis April 2003 erteilt wurde, der Zeitpunkt, ab dem seine Mutter nicht mehr für seinen Unterhalt aufkam. Herr Er beantragte sodann eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, die ihm für ein Jahr gewährt wurde, obwohl sich seine Situation dahin gehend geändert hatte, dass seine Mutter nicht mehr für seinen Unterhalt aufkam und er vier Monate lang Hilfe zum Lebensunterhalt bezogen hatte. Die zuständige Ausländerbehörde des Wetteraukreises forderte von Herrn Er jedoch nachweisliche Bemühungen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Herr Er nahm an einem Lehrgang zur Verbesserung seiner beruflichen Bildungs- und Eingliederungschancen teil, brach ihn aber wegen mangelnder Eignung ab. Er bezog einen Monat lang Sozialhilfe und meldete sich arbeitslos.

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Im September 2004 stellte Herr Er erneut einen Verlängerungsantrag. Anlässlich der Prüfung dieses Antrags unterhielt sich die Ausländerbehörde mehrfach mit Herrn Er. Dieser gab an, dass er bemüht sei, eine Arbeitsstelle zu finden, dass ihm bei Vorlage eines positiven polizeilichen Führungszeugnisses eine solche voraussichtlich vermittelt werde und dass er sich nochmals bei der Ausländerbehörde melden werde. Diese Erklärungen blieben jedoch ohne Folgen, und es kam nicht zu einer Arbeitsaufnahme. Herr Er bezog für die Dauer von 18 Monaten Arbeitslosengeld II.

Die Ausländerbehörde lehnte den im September 2004 gestellten Verlängerungsantrag von Herrn Er ab und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung in die Türkei auf, auszureisen.

Gegen diese Verfügung erhob er Widerspruch und stellte zudem einen Eilantrag beim vorlegenden Gericht, das mit Beschluss vom 4. Dezember 2006 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anordnete.

Das vorlegende Gericht verweist ferner auf einen Vermerk der Bundesagentur für Arbeit vom 18. August 2006 über eine Vorsprache von Herrn Er. Danach habe dieser keine Bemühungen zur Eingliederung in Arbeit gezeigt. Er habe zudem Schuldenprobleme, und seine Mutter wolle, dass er die Familienwohnung verlasse.
Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Gießen das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Das Urteil:

Verliert ein türkischer Staatsangehöriger, der als Familienangehöriger die Genehmigung erhalten hat, zu seinem in Deutschland lebenden Vater zu ziehen, der als türkischer Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörte, und der aufgrund früheren fünfjährigen ordnungsgemäßen Zusammenlebens mit diesem die Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erworben hat, diese Rechtsstellung dadurch, dass er nach Beendigung des Schulbesuchs über mehr als sieben Jahre hinweg bis auf einen angeblichen eintägigen Arbeitsversuch zu keinem Zeitpunkt einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, zudem sämtliche auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gerichteten staatlichen Fördermaßnahmen abbricht und sich selbst nicht ernsthaft um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemüht, und stattdessen abwechselnd von öffentlichen Sozialleistungen, Zuwendungen seiner in Deutschland lebenden Mutter und Mitteln unbekannter Herkunft lebt?

Der EuGH stellt wie in seinen früheren Entscheidungen in den Rechtssachen Kadiman, Ergat, Cetinkaya, Derin, Aydinli, Torun, Polat, klar dass Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 in den Mitgliedstaaten unmittelbare Wirkung hat. Die türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllen, können sich unmittelbar auf die Rechte berufen die sie ihnen verleiht. Insbesondere haben sie nach dem zweiten Gedankenstrich dieser Bestimmung das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis im Aufnahmemitgliedstaat, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.

Die Rechte, die diese Bestimmung dem Kind eines türkischen Arbeitnehmers hinsichtlich der Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat verleiht, setzen notwendig das Bestehen eines entsprechenden Aufenthaltsrechts des Betroffenen voraus, da dem Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis sonst jede Wirkung genommen würde.

So hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass es nur zwei Arten von Beschränkungen der Rechte geben kann, die Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer verleiht, die die Voraussetzungen dieses Absatzes erfüllen: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Migranten im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen.

Der Gerichtshof hat daraus gefolgert, dass der türkische Staatsangehörige, dem Rechte nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 zuerkannt worden sind, diese Rechte weder deshalb verlieren kann, weil er wegen einer Verurteilung zu einer – auch mehrjährigen – Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, keine Beschäftigung ausgeübt hat, noch aufgrund der Tatsache, dass er zu keiner Zeit Rechte in Bezug auf Beschäftigung und Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erworben hat. Im Gegensatz zu den türkischen Arbeitnehmern, auf die diese Bestimmung Anwendung findet, hängt die Rechtsstellung ihrer in Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 genannten Familienangehörigen nicht von der Ausübung einer Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ab.

Dass der Betroffene dem Arbeitsmarkt mehrere Jahre lang nicht zur Verfügung stand, hindert ihn somit nicht daran, sich auf Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 zu berufen, um ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat geltend zu machen.

Diese Erwägungen gelten erst recht für einen türkischen Staatsangehörigen wie Herrn Er, der den Arbeitsmarkt nicht verlassen hat. Dass er im Alter von 23 Jahren noch immer keine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt, steht der Gewährung eines Aufenthaltsrechts nicht entgegen.

Es ist im Gegenteil wichtig, dass ihm dieses Recht nicht entzogen wird, da es ihm ohne Aufenthaltsrecht nicht möglich ist, eine solche Beschäftigung aufzunehmen und das ihm durch diese Bestimmung verliehene Recht auszuüben, um sich besser in den Aufnahmemitgliedstaat zu integrieren.

Kommentar:

Aus meiner Sicht ist diese mutige Entscheidung des EuGH eine schallende Ohrfeige für diejenigen, die misslungene Integration nicht dadurch bekämpfen, dass die Ursachen bekämpft werden, sondern die Betroffenen selbst.

Das Aufenthaltsgesetz verbietet nicht die Aufenthaltsbeendigung von fest verwurzelten Jugendlichen. Diese Menschen sind hier aufgewachsen und letztlich in dieser Gesellschaft zu dem geworden, was sie sind. Stattdessen schwebt das Damoklesschwert der Aufenthaltsbeendigung durch Ausweisung oder schlicht Versagung des Aufenthaltstitels über diese Jugendlichen.

Der EuGH hat anders als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich nicht veranlasst gesehen, zu erwähnen, dass aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention ein Recht auf Privatsphäre für hier verwurzelte Menschen folgt.

Ich wage die Prognose, dass der EuGH auch die gerade vom Bundesverwaltungsgericht am 08.07.2008 vorgelegte Frage in der Rechtsache Bozkurt zu Gunsten des Klägers entscheiden wird.

Artikel 7 ARB 1/80 EWG/Türkei hat mittlerweile eine gewichtigere Rolle als Artikel 6

Für die aufenthaltsrechtliche Praxis bedeutet dies:

  1. Der Rechtsstatus eines nach Art. 7 ARB 1/80 Berechtigten darf nicht beendet werden, weil diese Person nicht arbeitet und seinen Lebensunterhalt von Sozialleistungen bestreitet.
  2. Der erworbene Rechtsstatus ist vergleichbar mit einem unbefristeten Aufenthaltsrecht. § 4 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz muss die Möglichkeit eröffnen diesen Status als unbefristeten Aufenthalt feststellen zu lassen (auch wenn es nicht Niederlassungserlaubnis genannt wird, könnte man es als Daueraufenthaltsrecht-ARB ausgestalten).
  3. Die Praxis, die Verlängerung dieses erworbenen Rechtsstatus nach dem Aufenthaltsgesetz zu verlangen, verstößt gegen höherrangiges Recht und muss abgeschafft werden. Der Gesetzgeber darf zudem keine Gebühren für die Verlängerung dieses Titels verlangen.
  4. Es ist verfahrensökonomischer Unsinn diesen deklaratorischen Status immer wieder durch Erteilung der befristeten Aufenthaltserlaubnis zu regeln. Das vergeudet unnötige Ressourcen.
  5. Ausländerbehörden haben die Feststellung des Erwerbs dieser Rechtsstellung nach Art. 7 zu treffen und die Akte, wie bei den Niederlassungserlaubnissen, in das Archiv weiter wandern zu lassen.

Hamburg, 26.09.2008